Manische Männermelancholie – Das Societaetstheater bietet mit »Moby_D« keine leichte Kost
09. September 2016 – Die Bühne liegt in dichtem Nebel. Ishmael (Tom Quaas) sitzt allein an seinem Tisch und starrt in die Leere seiner Gegenwart. Seit der Romanhandlung von Herman Melvilles »Moby Dick« ist scheinbar schon eine längere, unbestimmte Zeit vergangen und Ishmael, einziger Überlebender des untergegangenen Walfängerschiffes Pequod, hat den Verstand verloren.
In endlosen Handlungschleifen gefangen bewegt sich der Schwätzer und Zuschauer Ishmael durch das Labyrinth seiner Erinnerungen, stellt Nachforschungen über den weißen Wal an, ergibt sich seinen Todessehnsüchten und lässt sich im Wahn zu widersprüchlichen Gedanken hinreißen. Zwanghaft muss er seine Assoziationen aufzeichnen, um sich von den Stimmen in seinem Kopf zu befreien – dramaturgisch umgesetzt durch ein Lautsprecherorchester, aus dem sich unablässig musikalische Versatzstücke und dissonante Noiseklänge ergießen, die Ishmael versucht zu überschreien. Dabei wird recht schnell klar, dass der Wal hier für den Leviathan steht und der Leviathan für den Staat, dem Ishmael verständnislos gegenübersteht und nach dessen Willkür er sein Leben ausrichten muss. In allem Trouble aufersteht plötzlich Queequeq von den Toten, verkörpert von dem Blockflötisten Jeremias Schwarzer. Queequeq, selbst nur Halluzination, ist mit einem verschwindend geringen Redeanteil versehen und versucht lediglich durch seine Blockflöte Ruhe in die intermediale Überfrachtung, in das Weiße Rauschen zu bringen, das von Ishmael ausgeht.
Plötzlich durchbricht Tom Quaas die vierte Wand, fällt in das Publikum hinein und spricht mit ihm, bleibt aber in seiner Rolle. Er fragt, ob wir das Buch kennen, ihm eine Inhaltsangabe geben können. Fragt uns, was wir uns unter dem Wal, dem Leviathan vorstellen. Diesen improvisierten Part spielt Quaas so geschickt, dass er dem Publikum die Möglichkeit zur freien Assoziation einräumt – je nachdem, worauf der Befragte seinen Fokus legt. Quaas schiebt uns in eine Richtung, aber gibt keine Deutung vor. Er erwähnt schon fast beiläufig, dass Gudrun Ensslin den Mitgliedern der RAF Decknamen gab, die sie dem Roman »Moby Dick« entnahm. Dabei stand Kapitän Ahab für Baader, Starbuck für Holger Meins, der Wal aber war der Staat, der nicht bezwungen werden konnte.
Die Inszenierung von Wolfgang Heiniger und Therese Schmidt ist eine intellektuelle Tour de Force durch die Symbolik von »Moby Dick« und darüber hinaus. Das Stück gibt zahlreiche Anlässe zum weitschweifigen Assoziieren, zur vielseitigen Auslegung des Romanstoffs, der Person Ishmael, die stellvertretend für den »kleinen Mann« gedeutet werden kann, den Beobachter, den Knecht oder auch das kulturelle Gedächtnis. Es scheint aber kaum verwunderlich, dass in Folge der Dauerbeschallung des Publikums durch Noiseklänge und Samples, die ersten Besucher nach etwa einer Viertel Stunde den Saal verließen. Dafür wurden diejenigen, die Gefallen an der avantgardistischen Inszenierung fanden, durch ein hervorragendes Spiel von Tom Quaas und ein ausladendes Flötensolo von Jeremias Schwarzer am Ende des Stücks belohnt.
Stephan Zwerenz / Fotos: Juan Léon
Weitere Vorstellung: 09. September, Societaetstheater, 20 Uhr.
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