Die Toten Hosen
am 20. August 2022 auf dem Tempelhofer Feld in Berlin.
Endlich. Mein eigener Hosen-Moment. Im Sommer 1993 fuhr ich zum Elektromarkt an der Ausfallstraße der Kleinstadt, in der ich aufwuchs. Von meinem älteren Bruder hatte ich die Alben »Ein kleines bißchen Horrorschau«, »Auf dem Kreuzzug ins Glück« und »Learning Englisch Lesson One« längst auf Kassette überspielt bekommen. BASF, Chrome Extra II, 90 Minuten. Die guten also. Das hier aber war jetzt ganz allein mein Ding. »Alles aus Liebe«. Die Maxi-CD samt T-Shirt, limitiert auf 15.000 Stück. Am Tonträgerregal links vor den Kassen überlegte ich kurz, statt der Single, das ganze Album in die Hülle zu legen, hatte aber zu viel Schiss erwischt zu werden. »Kauf Mich!« - Ladendiebstahl lohnt sich nicht. Zu Hause angekommen zog ich das T-Shirt sofort über und gefühlt den ganzen Sommer nicht mehr aus. Die Maxi-CD spielte ich eine Woche lang. Irgendwann konnten auch meine Eltern den Song auswendig. Die Toten Hosen waren bei mir eingezogen. Seitdem habe ich die Band immer wieder live gesehen: am Elbufer, Rock am Ring oder im Kreuzberger SO36. Fast forward.

Am letzten Samstag, 29 Jahre nach meinem sommerlichen Besuch im Elektromarkt spielten Campino, Kuddel, Breiti, Andi und Vom das größte Konzert ihrer Jubiläumstour in Berlin. Anlass war das 40-jährige Bandbestehen, Titel der Sause: »Alles aus Liebe«. It’s a match! Ein Konzert der Superlative. Klar, lädt hier ja auch nicht irgendwer zur Party. Mit Millionen verkaufter Platten und zwölf Alben auf Platz eins der Charts stellt das Düsseldorfer Quartett hierzulande sogar die Beatles in den Schatten. Die große Bühne in schrillen Farben, das Wetter mäßig, schallen gegen halb sechs die ersten Akkorde durch die Anlage.

Den Anfang an diesem Abend macht die Ukrainische Band Stoned Jesus, gefolgt von Thees Uhlmann und Feine Sahne Fischfilet. Vor der Bühne 60.000 Fans, überwiegend in Hosen-Kluft. Festivalstimmung pur, Bier in Strömen, alle werden abgefeiert. Die Menge kommt in Wallung, Thees Uhlmann findet es genial und Monchi, Sänger von Feine Sahne, holt seine Eltern auf die Bühne. Später wird Campino im Hinblick auf die musikalischen Gäste aus Kiew darauf aufmerksam machen, dass man im Angesicht des Krieges einen Abend wie diesen nicht als selbstverständlich nehmen darf, sondern eher als »Trotzdem« sehen sollte.
Ein lautes und gelungenes Trotzdem mit vielen Gänsehautmomenten - gegen Viertel vor neun ist es so weit. Mit der aktuellen Single »Alle sagen das« stürmen die Hosen die Bühne. Es folgen Hits, Hits, Hits. Die Band hat sichtlich Spaß und Campino ist gewohnt konstant in Bewegung. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass der Mann gerade seinen 60. Geburtstag gefeiert hat oder sich nach dem Aufstehen manchmal wie 80 fühlt, wie er dem Publikum gesteht, bevor die Band passend die ewige Jugendhymne »Halbstark« der Bremer Beatband The Yankees anstimmt. Ist das noch Punk?, fragt hier niemand. Zwischendrin weist Campino noch darauf hin, dass die Show mit Ökostrom über die Bühne geht, es Komposttoiletten gibt und das Essen überwiegend vegetarisch ist. Nachhaltiger halt.

Unfassbar viele Songs finden an diesem Abend den Weg auf die Setlist. Eine imposante Werkschau. Von »Hier kommt Alex« über »Pushed Again« bis hin zu »Zehn kleine Jägermeister« und »Tagen wie diese« ist alles dabei. Insgesamt spielen Die Toten Hosen zum 74. Mal in Berlin. Öfter als in Düsseldorf. Auch Rapper Marteria wollte eigentlich vorbeikommen, um mit »Scheiss Ossis« das Pendant zum Song »Scheiss Wessis« zum Besten zu geben. Der konnte aber nicht. Immerhin ist Kulturstaatsministerin und ehemalige Managerin der Ton Steine Scherben, Claudia Roth am Start und im Geiste auch BelaFarinRod, deren »Schrei nach Liebe« an diesem Abend von den Toten Hosen gecovert wird. »Gebt dieser kleinen Band aus eurer Gegend eine Chance!«, kündigt Campino das Stück mit einem Augenzwinkern an. Die Ärzte werden eine Woche später an gleicher Stelle spielen.

Dann sind da noch Planlos. Jene, auch aus der sehenswerten Dokumentation »Auswärtsspiel« bekannten und in der DDR von der Stasi verfolgten Ost-Punkband, mit der die Hosen 1983 bei einem illegalen Konzert in der Ost-Berliner Erlöserkirche gespielt hatten. Gemeinsam performt man die Stücke »Überall, wohin`s dich führt« und, den an den Klassiker der Punkband Vibrators angelehnten Hosen-Evergreen »Disco in Moskau«. Was für ein Ritt! Um 23 Uhr ist Schluss, Eisgekühlter Bommerlunder der stilechte Rausschmeißer.

Im Interview hat mir Campino auf die Frage, wie viel Jahre das noch so weitergehen kann, einmal geantwortet: »Solange die Sache (...) läuft, wollen wir maximalen Spaß haben und bieten.« Daran gemessen haben Die Toten Hosen an diesem Abend alles richtig gemacht. In ein paar Wochen fahre ich wieder in die Kleinstadt meiner Kindheit. Dann werde ich auch dem Elektromarkt an der Ausfallstraße einen Besuch abstatten. Im Ohr: Alles aus Liebe!
Text: M. Hufnagl / Fotos: Bastian Bochinski




« zurück