An die Abwesenden – theaterale subversion zählen in Hellerau »Lebende Minus Tote«
19. Juni 2021 – Angekündigt ist es als 360°-Musiktheater. Falsch ist das nicht, aber die neue Recherche-Arbeit von theatrale subversion ist so viel mehr. Dafür versammelt sich die Trauergemeinde, vulgo: das Publikum, im Festspielhaus Hellerau kreisförmig um eine 360°-Kamera, die wesentlicher Bestandteil der Inszenierung ist. Was im ersten Blick als Reaktion auf beschränkte Möglichkeiten vor Ort gelesen wird, ist aber Teil des Konzeptes. Hier werden die »Abwesenden« mitgedacht. Das sind zum einen die Zuschauer, die nicht im Festspielhaus sitzen, sondern später den Stream verfolgen werden. Zum anderen sind es die Toten, die vielleicht an Corona gestorben sind, vielleicht aber auch aus ganz anderen Gründen. Sie sind es, die im Fokus stehen und für die gemeinsam mit dem Publikum ein Trauerprozess probiert werden soll.
Alles beginnt mit dem Bild des Fährmanns, der Fährfrau, die, den metaphorischen Fluss überbrückend, eine Verbindung herstellen soll zwischen dem Reich der Lebendigen und dem der Dahingegangenen. Ist diese Über-Brückung machbar? Erreicht man mit einer 360°-Kamera jemanden? Wenn ja, wen? Wie lässt sich eine Verbindung aufbauen zu denjenigen, die in einem psychologischen Sinn »anwesend« sind? Wo sind jene tatsächlich, wenn wir sie vielleicht gar nicht gehen lassen wollen? Wer definiert den Begriff der Vorhölle als Konzept der Gefangenschaft zwischen Hier und Nirgendwo?
Trauer ist Arbeit. Das wird schnell deutlich. Es ist ein Job, den jeder tun muss, den aber nicht jeder leisten kann. Über die Klage den Weg zum Trost zu finden, das versucht hier Katharina Bill, die als Performerin die fiktive Trauerbegleiterin gibt. Das ist sachlich. Das ist nüchtern. Und das kippt genau deshalb auch mal ins Komische um. Denn: Wir sind ja (noch) nicht tot. Deshalb trägt hier auch keiner Schwarz, nicht Katharina Bill, keiner der Performer von theatrale subversion, nicht die vier Sängerinnen und Sänger. Stattdessen viel Weiß, und bunte, fröhliche Farben. Sie alle versuchen trotzdem Trauer im Wortsinn zu tragen, nutzen ihre Stimme für den Prozess der Hörbarmachung der Individualität eines Trauerprozesses. Alles bleibt allerdings Versuch, ohne Gewissheit. Der Tod lässt sich nicht greifen.
Besonders amüsant gerät der Versuch des Herstellens einer Verbindung, der Versuch der Überbrückung, wenn Romy Weyrauch vermeintlich versucht, via Sprachnachricht »in Echtzeit« Kontakt mit ihrer Großtante Inge aufzunehmen. Ironie der Geschichte: Es gelingt nicht, obwohl Inge nicht tot ist. Nicht einmal der Kontakt zu den Lebenden gelingt. Trotzdem erfährt man ausreichend über Inges Leben. Dabei ist es weniger, was sie sagt. Es ist ihr Räuspern, ihr Stocken, das wiederholte Brechen ihrer Stimme, das Bände spricht. Sie spricht davon, dass man ja nicht ewig bleiben könne. Und man habe ja die Hoffnung, dass … Dann beendet sie den Satz, indem sie das Wort »Leben« verwendet, nicht etwa das Wort »Tod«. Bis dann erneut die Diskussion vom Anfang des Abends von vorn beginnt, die Frage nach der Fährfrau und ihrer Funktion. Und fertig ist das Bild vom Leben als Kreis, in dem der Tod einfach drin steckt.
Achtung: Wer im Publikum vor Ort ist, erklärt sich automatisch mit der digitalen Aufnahme der Performance einverstanden, die am 21., 22. und 23. Juni jeweils 20 Uhr über die Homepage www.hellerau.org gestreamt wird!
Rico Stehfest / Fotos: André Wirsig
Nächste Vorstellungen: 19. und 20. Juni, Festspielhaus Hellerau, 18.30 Uhr bzw. 20 Uhr.
|
|
|