Alice im Multimedialand

Was die Staatsoperette nüchtern als »Ballettabend« beschreibt, wird der inszenatorischen Opulenz dieser Fantasiereise nur unzureichend gerecht. Ein Haus, dessen Wände plötzlich Einblick ins Innere gewähren. Eine Reise auf einer riesigen Landkarte. Eine fluoreszierende Unterwasserwelt. Ganz klar sind die mit viel Liebe zum Detail erstellten Bühnenbilder der heimliche Star dieser Alice im Wunderland. Waren einige Produktionen an der Staatsoperette im Jahr 2023 vom Versuch geprägt, sich mit Fragen der Zeit kritisch auseinanderzusetzen – man denke an das kriegerische Gemetzel im »Pippin« oder den rotzfrechen Frosch-Monolog in der »Fledermaus« – verzichtet Radek Stopkas »Alice im Wunderland« (feierte am 2. Dezember Premiere) auf bemühte Aktualisierungen.

Hauptthema von Alice im Wunderland ist die kindliche Perspektive. Die bisweilen frustrierende Erfahrung, dass man als Kind ständig noch zu klein oder schon zu groß für bestimmte Dinge ist, wird z. B. mit überdimensionierten Bücherpaketen, die die Kinderballett-Steppkes am Riemen schleppen, anschaulich bebildert. Melania Mazzaferros tanzt diese Alice als Kind an der Schwelle zum Erwachsensein, das sich der Welt zu stellen beginnt, indem es die eigene Fantasie auslotet. Und die ist beileibe nicht harmlos.

Darf man die Besetzung des weißen Kaninchens mit Eliton Da Silva de Barros schon als subtilen Spaß der Regie verstehen? Vladislav Vlasovs Herzkönigin jedenfalls treibt die Lust an der Subversion mit geradezu Shakespeare’schem Gendergaga auf die Spitze. Ein weiteres Highlight ist der augenzwinkernd-laszive Tanz der hypnotisierend glitzernden Blauen Raupe (Christian Vitiello). Dschungelblumen mit Supermodelmaßen, anmutige-ungelenke Gliederpuppen und Irokesen-Zebras – die Hingucker sind zahlreich. Mit Verweisen auf Mary Poppins und Tim Burton erweist die Produktion auch dem fantastischen Kino ihre Reverenz.

Sven Helbigs atmosphärischer Klangteppich hat Filmmusikqualitäten; bisweilen scheint die Artverwandtschaft mit Yann Tiersens »Amélie« auf, jener anderen kindlichen Erschafferin fabelhafter Welten. Minimal-Music-typische Loops sind die dezenten Kettfäden im arabesken Gewebe der Handlung.

Den einzigen Vorwurf, den man dieser Produktion machen kann, ist, dass sie ihre Kreativität scheinbar unendlich auslebt. Bildwelt folgt auf Bildwelt, und ehe es zur finalen Zuspitzung im Kampf zwischen Herz- und weißer Königin kommt und die Geschichte auf ihr dann allerdings etwas abruptes Ende zusteuert, vergeht viel Zeit. Man sollte sie sich gönnen.

Text: Kathrin Muysers / Fotos: Pawel Sosnoski

»Alice im Wunderland« ist am 22./23.12. sowie am 25./26.12.2023 in der Staatsoperette zu sehen: www.staatsoperette.de/spielplan/a-z/alice-im-wunderland/



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