Tocotronic
Die Unendlichkeit
(Universal/Vertigo)
Die neue Platte von Tocotronic zu besprechen ist ein Minenfeld. Da gibt es die Fraktion, welche erwartet, dass man jedes neue Machwerk von Dirk von Lowtzow und seinen Jungs in den bandhistorischen Zusammenhang setzt. Jede Textzeile mit der Tocotronic-Urschrift abgleicht und möglichst noch in bester Feuilleton-Manier in den gesamtgesellschaftlichen Kontext rückt. Abseits davon gibt es die Hater. Zum einen diejenigen, welche Tocotronic schon immer als larmoyante Turnbeutelvergesser abgestempelt haben, zum anderen die Gruppe vergraulter Fans, die sich von ihrem ehemaligen Generationssprachrohr nicht mehr repräsentiert fühlen. Wirft man diesen Ballast über Bord, begegnet der neuen Platte »Die Unendlichkeit« vorurteilsfrei und unverkrampft, ist die Sache allerdings schnell klar. Auf zwölf Stücken besingt von Lowtzow prägnante Erlebnisse der eigenen Biographie. Die Musik angenehm gitarrenlastig erzählen die Texte von Ausbruch, Aufbruch, Teenage-Angst, Rebellion und der Großstadteskalation als Alternative zu provinzieller Xenophobie und Engstirnigkeit. Da wird in »Electric Guitar« die »Manic Depression im Reihenhaus« besungen, bevor »Hey Du« den Finger in die Wunde einer Gesellschaft legt, die Konformität einfordert und Abweichungen mit Verachtung und Gewalt bestraft. Abgrenzung ist hier Lebensentwurf, zärtliches Scheitern, Begehren, Angst und Vergehen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Platte. Nach der Liebe auf dem roten Album ist nun also das Ich in der Rückschau Konzept und Thema. Tocotronic wären aber nicht Tocotronic, wenn sich aus der Biographie nicht auch Kritik am Hier und Jetzt und etwas Hoffnung für die Zukunft speisen ließe. So heißt es im Stück »1993«: »Austritt aus der Stille, Ausbruch aus der Ferne, Ausfahrt aus der Hölle«. Das macht Sinn – damals wie heute. Wichtige Platte.
M.Hufnagl
Tocotronic sind am 14.4.2018 live im Alten Schlachthof zu erleben.
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