■ Seit einiger Zeit erforscht Uta Hauthal eine Leerstelle im kulturellen Gedächtnis unserer Stadt: Dresdner Schriftstellerinnen des letzten Jahrhunderts. Namen wie Johanna Marie Lankau, Annemarie Reinhard, Auguste Lazar, Heide Wendland und Marianne Bruns sind den wenigsten ein Begriff. Uta Hauthal will diese Lücke schließen. Wie Orpheus holt sie ihre Eurydikes aus der Unterwelt: mit Essays, mit Vorträgen an der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek (SLUB) – und mit literarischen Spaziergängen auf deren Spuren. Ohnehin ist Uta Hauthal niemand, die sich in der Schreibstube verschanzt. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit gestaltet sie auch Liederabende, bei denen sie mit Chansons auftritt und experimentiert mit ihrer »Poesie-Tankstelle«. DRESDNER-Autorin Annett Groh im Gespräch mit Uta Hauthal über Literaturvermittlung jenseits geschlossener Räume.
Was ist die Idee hinter den Dresdner Spaziergängen?
Uta Hauthal: Eigentlich stecken zwei Ideen dahinter. Bei meinen Recherchen zu vergessenen Dresdner Schriftstellerinnen stieß ich relativ schnell auf Johanna Marie Lankau mit ihren »Dresdner Spaziergängen« von 1912. Das hat mich elektrisiert, ich habe mir das Buch sofort antiquarisch besorgt. Ich war sehr gespannt darauf, das Dresden von 1912 kennenzulernen. Beim Lesen habe ich festgestellt, dass Johanna Lankau sich zum einen durch sehr genaue, lebendige Beschreibungen und ihren Kenntnisreichtum über Geologie, Botanik, Mineralogie und Ornithologie auszeichnet. Gleichzeitig bemerkte ich, dass sie nur in einem einzigen Kapitel wirklich über die Stadt geschrieben hat. Alles andere ist Natur. Manchmal richtet sie den Blick auf die hektische Stadt zurück. Da habe ich mich gefragt: Warum? Warum beschreibt sie nicht die Stadt als Stadt? Und an dem einzigen Kapitel, wo sie wirklich die Stadt selbst in den Blick nimmt, nämlich die Prager Straße, wurde mir das dann auch deutlich. Denn hier beschreibt sie die Wandlung von einer verwunschenen Straße mit Villen, großen Gärten, Wiesen und einem weinumrankten Bahnwärterhäuschen an ihrem Ende hin zu einer schnellen Verkehrsstraße mit elektrischer Straßenbahn, deren Schönheit »vom Sturm der Bauwut hinweggefegt« wurde. Ich hatte das Gefühl, dass es hier sehr viele Parallelen zu unserem Erleben gibt, zu der heutigen Überforderung und Hilflosigkeit angesichts des Entwicklungstempos bei Digitalisierung und künstlicher Intelligenz. Das war für mich ein Schlüssel zum Verständnis, warum sich Johanna Lankau so sehr auf die Natur und Landschaft konzentriert hat.
Im Gespräch mit Dr. Julia Meyer von der SLUB entstand dann die Idee, nicht nur darüber zu schreiben, wie ich es etwa in den Dresdner Heften getan habe, sondern den Titel von Johanna Lankau ernstzunehmen und wirklich Spaziergänge zu entwickeln. Und da wurde mir klar, dass ich noch weitere Dresdner Autorinnen mit einbinden möchte.
Wie läuft ein solcher Spaziergang ab?
Uta Hauthal: Als eine Wanderung zu den von Lankau beschriebenen Orten, wo ich dann die entsprechenden Passagen vorlese. Es ist spannend, genau dort zu stehen, ihre Beschreibungen von vor hundert Jahren zu hören und dabei den Ort so zu sehen, wie er heute ist. Ich flechte dann immer noch eine Autorin mit hinein, die inhaltlich passt. Zum Beispiel begann der erste Spaziergang an der Russisch-Orthodoxen Kirche und führte hinauf zur Räcknitzhöhe, wo sich die Auguste-Lazar-Straße befindet. Ich habe also Johanna Lankaus Schilderungen und Auguste Lazars Lebenserinnerungen miteinander verknüpft. Ein anderer Spaziergang begann vis-à-vis von Laubegast, wo Karoline Neuber gestorben ist, über die Heide Wendland einen Roman geschrieben hat. Ich versuche immer, für die Spaziergänge solche Verbindungen zu finden.
Was glauben Sie, wie das Erleben beim Gehen auf die Teilnehmer wirkt?
Uta Hauthal: Es zeigt sich, dass man beim Gehen leichter ins Gespräch kommt. Es sind ja meist größere Distanzen, die wir laufen. Dann tauschen sich die Teilnehmer, die sich vorher oft nicht kannten, zu den gehörten Texten aus. Das ist eine sehr schöne, bereichernde Ebene.
Das direkte, persönliche Zugehen auf Leute scheint zu Ihrem Selbstverständnis als Künstlerin zu gehören ... ?
Uta Hauthal: Ja, sonst würde ja die Poesie-Tankstelle gar nicht funktionieren.
Was ist die Poesie-Tankstelle?
Uta Hauthal: Es hieß immer und überall, Lyrik sei irrelevant, und die Lyrikerkollegen barmten und klagten. Da ich auch Musikerin bin, hatte ich dieses Bild von Straßenmusikanten vor mir und dachte mir: Warum könnte man das nicht auch mit Gedichten machen? Dann ging es ganz schnell: 2016 bin ich mit meinem Fahrrad einfach losgezogen. Und ich habe festgestellt, dass die Intensität, die entsteht, wenn ich für einen einzelnen Menschen lese – dass sie das Erleben der Poesie wirklich verstärkt. Es gab eine ganze Reihe von Leuten, die gesagt haben, sie wüssten gar nicht, warum sie eigentlich keine Gedichte mehr lesen. Es sei ihnen irgendwie verlorengegangen. Es geht vielleicht einfach um diesen Impuls, mal wieder ein Gedicht zu lesen. Denn ich glaube, niemand entscheidet bewusst: »Ich lasse Gedichte jetzt links liegen!« Sie entschwinden einfach aus dem Alltag. Und es ist schön, dass ich die Poesie für meine Zuhörer ein Stück zurückgeholt habe.
Was haben Sie für sich selbst daraus mitgenommen?
Uta Hauthal: Jede einzelne Begegnung war immer ein Erlebnis. Viele blieben einfach stehen und wir haben noch über das Gedicht gesprochen. Einem älteren Mann in einem sächsischen Dorf leuchteten die Augen und er sagte: »Sie haben mir jetzt den Tag verzaubert!«
Wissen Sie noch, welches Gedicht Sie ihm vorgelesen haben?
Uta Hauthal: Ja, das weiß ich ganz genau. Das war »Der Mai« von Erich Kästner, aus seinem Gedichtband »Die 13 Monate«.
Die nächsten Termine der »Dresdner Spaziergänge« am 4. Oktober 2020 »Herbst in der Heide«, Treffpunkt Stauffenbergallee/Marienallee, 14 Uhr sowie am 24. Oktober »Der alte Eliasfriedhof«, Treffpunkt Eingang Eliasfriedhof, 14 Uhr; www.utahauthal.de oder www.zeitgedanken.eu