■ In ihren Tagbüchern schilderte das jüdische Mädchen Annelies Marie »Anne« Frank mit scharfer Beobachtungsgabe, Klugheit und Humor ihr Leben und den Alltag im Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht 263. Über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren hatte sie sich dort mit ihrer Familie vor der Verfolgung der Nationalsozialisten versteckt. Kurz vor Kriegsende fiel die Familie dennoch dem nationalsozialistischen Holocaust zum Opfer. Anne Frank starb 1945 – mit 15 Jahren – im KZ Bergen-Belsen. Ihr Tagbuch gilt heute als wichtiges historisches Dokument über die Zeit des Nationalsozialismus. Nach unzähligen filmischen und künstlerischen Würdigungen, kommt nun die erste deutsche Verfilmung des Lebens der Anne Frank in die Kinos. DRESDNER-Autor Martin Schwickert traf Regisseur Hans Steinbichler und sprach mit ihm über die Bedeutung, die das Schicksal des jüdischen Mädchens für die heutige Gesellschaft hat.
Was macht die Qualität von Anne Franks Tagebüchern aus, die auch nach über 70 Jahren nichts von ihrer Wirkung als Zeitdokument eingebüßt haben?
Hans Steinbichler: Als ich jetzt im Zuge dieses Filmprojekts den Text nach langer Zeit wieder las, war ich wirklich überrascht, was für eine Qualität diese Aufzeichnungen haben: die Schärfe der Beobachtungsgabe, das Sezieren von Beziehungen und immer wieder zwischendrin – etwa wenn Anne über die Rolle der Frau oder den Zustand der Welt schreibt – Momente, die so modern sind, dass man sich fragt, wie ein Mädchen in dem Alter und in dieser Zeit das hinbekommen kann. Die Wirkung des Buches wird einerseits durch dieses überraschend Moderne des Geschriebenen bestimmt und andererseits dadurch, dass man weiß, dass dieses Mädchen, das man höchst lebendig vor sich sieht, von den Deutschen am Ende ermordet wurde.
Es gab ja schon einige Anne-Frank-Verfilmungen vor allem im englischen Sprachraum. Warum war es an der Zeit, dass sich eine deutsche Produktion dieser Geschichte annimmt?
Hans Steinbichler: Das war der Wunsch des Anne-Frank-Fonds, der von Annes Vater Otto gegründet wurde und seither Annes geistiges Erbe schützt und verwaltet. Dem Fond und den Produzenten war es ein Anliegen, 70 Jahre nach Annes Tod einen deutschen Kinofilm – den ersten übrigens – über diese Familie zu machen. Mit deutschen Schauspielern, einem deutschen Regisseur und in deutscher Sprache. Ich fand diesen Aspekt entscheidend, da ich als deutscher Filmemacher bei diesem Thema natürlich eine ganz andere Perspektive einnehme, als dies beispielsweise ein Steven Spielberg tun würde. Als deutscher Regisseur kann man hier nicht so tun, als verfilme man irgendeine Geschichte, die sich vor 70 Jahren ereignet hat. Man kann das nicht inszenieren, ohne sich der eigenen Vergangenheit bewusst zu sein.
Sie gehören zur Enkelgeneration der Täter. Hat diese Generation einen klareren Blick auf die Geschichte?
Hans Steinbichler: Mein Vater ist Jahrgang 1936 und seine Generation hatte sich einen Philosemitismus antrainiert, der nur ein Reflex auf das Ungeheuerliche war und eine Erziehung verdeckte, die ganz andere Dinge vermittelt hat. Meine Generation kann mit einem Abstand auf den Nationalsozialismus blicken und durfte sehr viel über diese Zeit lernen. Unsere Generation hat, so hoffe ich zumindest, einen schärferen Blick, ist aber nicht entbunden von Scham und Schuldgefühlen. Auch wenn es manchmal heißt, es gäbe keine Kollektivschuld – ich empfinde sie.
Anne Frank ist auch eine Ikone. Jeder kennt ihr Bild, auch wenn vielleicht nicht jeder ihre Tagebücher gelesen hat. Wie geht man als Filmemacher damit um?
Hans Steinbichler: Ein Mythos kann zunächst einmal ein großes Hindernis sein und dazu führen, dass eine historische Figur missbraucht wird. Ich wollte diesem Mythos nicht dienen, sondern zurück zu den Wurzeln gehen: Dass hier ein Tagebuch gefunden wurde, wovon es möglicherweise noch zig andere in ähnlicher Qualität in Europa gegeben hat, die aber vernichtet, verbrannt oder vergessen wurden. Ich wollte anhand dieses in vielerlei Hinsicht einzigartigen Textes allein die konkrete Geschichte dieses Mädchens zeigen. Hier ist ein Mensch in seiner unglaublichen Zerrissenheit, in seinem Wachsen, im Erwachen der Sexualität, oft verzweifelt und mit all den Gefühlen, die jeder kennt. Und dieses normale Leben wurde ihr einfach geraubt. Ich wollte die Figur nicht überhöhen. Je mehr man Anne Frank als normales Mädchen zeichnet, um so schmerzhafter ist ihr Tod.
Aber gleichzeitig scheint sie emotional und intellektuell ihrem Alter und ihrer Zeit oftmals weit voraus ...?
Hans Steinbichler: Anne Frank hatte genialische Momente in ihrem Ausdruck und ihrer Geisteskraft. Wenn sie überlebt hätte und man ihre mögliche Entwicklung weiterdenkt, wäre Anne Frank heute sehr wahrscheinlich eine Geistesgröße unseres Landes. Eine Frau vom Format einer Gräfin Dönhoff, die unbeirrbar ihren Weg geht und eine Haltung und vor allem ein Frauenbild verkörpert, das sehr modern ist.
Wie wichtig war es für Sie, auch die unsympathischen Seiten von Anne Frank zu zeigen?
Hans Steinbichler: Zur Entmythologisierung gehört auch, dass Anne Frank im Film nicht ein Mädchen sein sollte, das alle gleich in den Arm nehmen wollen. Sie sollte vielmehr und ihrem Wesen entsprechend wie eine Distel sein. Mir war es wichtig, dass man mit der Figur erst nach und nach warm wird. Ich wollte Anne Frank in ihren Widersprüchen zeigen, denn es ist unsere Aufgabe, Menschen unterschiedslos wahrzunehmen und zu lieben.
Sie erzählen Anne Franks Geschichte über das Tagebuch hinaus und zeigen etwa auch die Verhaftung. Wie nah sind diese Szenen an der Wirklichkeit? Wie war hier die Quellenlage?
Hans Steinbichler: Mein Wunsch war es, die Geschichte von Anne bis zu ihrem Tod zu erzählen. Was die Verhaftung angeht, ist die Quellenlage sehr gut. Der österreichische Gestapo-Mann Karl Silberbauer hat einen sehr detaillierten Bericht geschrieben und sich später auch dazu geäußert. Dann gibt es mündliche Überlieferungen von Teilen der Familie und schließlich den Bericht von Otto Frank, der ja als Einziger den Holocaust überlebt hat.
Das Deutschland im Jahre 2016 ist in einem deutlich polarisierten Zustand. Auf der einen Seite fremdenfeindliche Pegida-Demonstrationen auf der anderen ein großes Engagement für Flüchtlinge. Wie verortet sich ein Film wie »Anne Frank« in dieser gesellschaftlichen Situation?
Hans Steinbichler: Unser Film steht ja jetzt nur zufällig in dieser politischen Landschaft. Wir haben mit der Produktion schon sehr viel früher begonnen. Aber ich glaube, dass sich der Film in der Mitte unserer Gesellschaft verortet. »Anne Frank« erzählt im Grunde die Geschichte einer Deutschen, die in die Niederlande geflüchtet ist und mit großer Mühe und der Hilfe Anderer versteckt wurde. Der Film hinterfragt das Bild vom Flüchtling als Ausländer und zeigt, was Leute unter deutlich größerer Gefahr für ihre Mitmenschen zu tun bereit sind. »Anne Frank« ist ja vor allem erzählerisch angelegt und will daher auch ein breites Publikum erreichen.
»Das Tagebuch der Anne Frank« (ab 3. März im Ufa-Palast, UCI, KiF, Pk Ost, Rundkino, Cinemaxx und in der Schauburg), BRD 2015, Regie: Hans Steinbichler, mit Lea van Acken, Martina Gedeck, Ulrich Noethen u.a. Zum Trailer: www.youtube.com/watch?v=a1kxh1i9U2o