Zwischen Mundgeruch und Garten Eden - »Vernichten«
feierte am 27. April 2023 seine Premiere im Schauspielhaus.

Mit dem Bühnenstück »Vernichten«, das an den gleichnamigen Roman von Michel Houellebeqc angelehnt ist, kommt der für seine experimentellen Inszenierungen bekannte Regisseur Sebastian Hartmann ans Dresdner Staatschauspiel zurück. Wie zu erwarten handelt es sich hier nicht um eine lineare Adaption des Romans; vielmehr greift das Stück Fragmente des Buchs auf und führt sie zu einer poetischen Collage zusammen. Dementsprechend entzieht sich die Inszenierung auch klaren Erzählsträngen und setzt hauptsächlich auf Emotionen. Was mit der Mundkrebserkrankung eines Protagonisten und emotionalen Zusammenbrüchen beginnt, weitet sich schnell zu einer multiperspektivischen Ausleuchtung des Gesamtprozesses Sterben aus. Dazu gehört aber nicht nur der Beginn des Verfalls, sondern auch der Tod selbst und schließlich auch das Danach.

Doch es geht nicht nur um individuelle, fast variabel erscheinende Schicksale. Topoi einer sich selbst abschaffenden Gesellschaft überblenden die Krisen des Subjekts. Radikalität, Terror, Klimawandel, Krieg – die Endzeitstimmung formuliert sich weniger im Schockvokabular, als durch eine dringende, fast nüchterne und dennoch verschlüsselte Deutlichkeit – mit dem Effekt, dass sich nach der zweiten Pause der Zuschauerraum sichtlich geleert hat.

Dem ein oder anderen ging die Inszenierung hier wohl zu nahe – und ja, so nah war Theater selten. Mit kinematographischen Liveelementen arbeitend, fahren immer wieder Leinwände hoch und runter, wir sehen Darsteller in der Nahaufnahme unter der Bühne, im brutalistischem Bühnenbildquader oder in der Luft schweben. Perspektiven, die vom Zuschauerraum aus sonst verborgen bleiben, offenbaren Handlungen und Details in visueller Schärfe, die den am Anfang oft zitierten »fahlen Geschmack im Mund« beinahe plastisch machen. Zitate aus Literatur, Kunst und Film unterstützen dies, und ein an Kafka erinnernder Käfer als animalische Inkarnation des genannten Tumorgeschwürs lindert das Unbehagen definitiv nicht.

Die Inszenierung hat Schnittstellen zum immersiven Theater, und eine Kameraeinstellung zeigt uns Zuschauer an einer Stelle als Schattengestalten auf der Leinwand. Während hier nicht ganz klar ist, wer wem zuschaut, und die Frage nach ›Protagonistenschaft‹ für Desorientierung sorgt, vernichtet die eindrucksvolle 3D-Animation des Künstlers Tilo Baumgärtel jedes Ort- und Zeitgefühl im letzten Akt schlussendlich komplett. Mit 3D-Brillen auf der Nase sehen wir futuristische Bildwelten kulminierend in camouflagartigen Mustern – Begriffe wie Bühne und Zuschauerraum werden hier eliminiert. Garten Eden und ein Erleichterungsmoment, dass vielleicht alles doch gar nicht so schlimm ist wie gezeigt – all das wird hier greifbar und gleichzeitig auch nicht.

Am Ende gibt es nochmal einen harten Bruch, wenn Edwin A. Abotts Novelle »Flatland« chansonartig aufgegriffen wird und uns humoristisch mit einem Ausflug in die Quantenphysik das ewige Leben – in welcher Form auch immer – attestiert. »Vernichten« lädt zu einem einmaligen Theaterabend ein, der sämtliche Konventionen des Sprechtheaters hinter sich lässt und in dieser Qualität selten im deutschsprachigen Raum zu erleben ist.
Text: Isabell Sterner / Fotos: Sebastian Hoppe

Nächste Vorstellungen: am 8.5. und 21.5.2023 im Schauspielhaus.



« zurück