Wenn Wahrheit und Lüge verschwimmen – »Metropol« in der Gedenkstätte Bautzner Straße
»Man wird doch nicht verhaftet, weil man jemandem ein Grammophon verkauft hat!«, echauffiert sich Charlotte, als sie vom Dienst bei der Komintern suspendiert wird. Auch ihr Mann Wilhelm, bis dato angestellt bei deren Geheimdienst, ist schockiert. In den 1930er Jahren vor dem Nazi-Regime in die Sowjetunion geflohen, werden sie nun mit weiteren politischen Gefangenen ins Hotel Metropol im Herzen Moskaus zitiert. 477 Tage wird der Aufenthalt des als »volksfeindlich« verdächtigten Ehepaars dauern. Jede eingenommene Mahlzeit wird zum geheimen Zählappell, denn immer wieder verschwinden Personen, werden von ihrem Schicksal im Zuge von Stalins Parteisäuberungen eingeholt. In der Hochphase, dem sogenannten »Großen Terror« 1936 bis 1938 wurden täglich etwa 1.000 Menschen exekutiert.

Die Compagnie von Cie. Freaks und Fremde setzt sich in Kooperation mit dem Societaetstheater in »Metropol« mit dem Stoff des gleichnamigen Romans von Eugen Ruge auseinander. Charlotte und Wilhelm (Deckname: Lotte und Jean Germaine), das sind die Großeltern Ruges. Die Bekanntschaft mit Alexander Emel, 1936 im ersten Schauprozess verurteilt, wird dem Ehepaar zum Verhängnis.
Die absurden Verurteilungen kulminieren, als Wassili Wassiljewitsch Ulrich, vorsitzender Richter im zweiten Schauprozess 1937, Hilde Tal (Ex-Frau Wilhelms und ebenfalls Protagonistin des Stückes) zunächst zu einer Arbeitslager-Strafe verurteilt. In sadistischem Verweis auf die kommunistische Gleichberechtigung verhängt er zuletzt doch die Todesstrafe.

Die Gedenkstätte Bautzner Straße ist als Spielort überaus passend. Ihre Funktion als ehemaliges Stasi-Gefängnis zeigt deutliche Parallelen zur Situation in Moskau 1937. Es erscheint daher geradezu als Gewinn, dass das Societaetstheater aktuell saniert wird und daher ein Ausweichen auf alternative Spielstätten erforderlich ist.
Sabine Köhler und Heiki Ikkola schaffen es in dieser Produktion nicht nur, die Figur von Ulrich, dessen Rolle passenderweise von einer »Marionette« besetzt wird, unheimlich lebendig wirken zu lassen, sondern glänzen auch schauspielerisch in zahlreichen Rollenwechseln.

Das Stück lebt von den virtuosen Ton-Collagen von Tobias Herzz-Hallbauer, dessen Können aufgrund der strategisch klug platzierten »Tonbox« genauestens beobachtet werden kann. Ergänzt wird die unangenehm-paranoide Atmosphäre von Videoprojektionen (Beate Gburek und Eckart Reichel), die durch geschickte Spiegelung der jeweils aktuellen Bühnenszene, den Eindruck der Dauerbeobachtung noch verstärken.
Gekonnt werden manie-induzierendes Abwarten und Hilflosigkeit der Protagonisten zur Schau gestellt. Wir werden an der Nase herumgeführt, erleben unmittelbar, wie Wahrheit und Lüge unaufhaltsam verschwimmen, sodass wir zuletzt selbst nicht mehr wissen, ob der Verkauf eines Grammophons an einen Bekannten ein »Volksverrat« sein kann.
Text: Rebecca Klärner / Fotos: André Wirsig

Weitere Vorstellungen: 11. - 15.10., 19. - 23.10.2022 in der Gedenkstätte Bautzner Straße, jew. 20 Uhr.



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