Wann beginnt das Morgen? In Timofey Kuljabins »Kinder der Sonne« spielt die Zeit keine Rolle

Hellerau, 18. Januar 2020. In den letzten Tagen des Jahres 1999 fürchtet die halbe Welt die Apokalypse. Die Rechner der bereits als stark computerisiert wahrgenommenen Welt können angeblich nicht bis 2000 zählen und drohen, mit ihrem Zusammenbruch das zivilisierte Leben mit sich zu reißen. Pawel Fjodorowitsch Protasow klebt in diesen Tagen wie ein Roboter vor Bildschirm und Tastatur, um einen Cloud-Speicher-Algorithmus zu programmieren. Ein »Draußen« gibt es für ihn im Moment nicht. Manchmal aber betreten andere Menschen, wie seine Frau Elena, die sich nicht wahrgenommen fühlt oder seine Schwester Elizaveta, die nach einem erlebten Terroranschlag an der Welt krankt, seine Blase und reißen ihn aus der Arbeit. Plötzlich hat er zu seinen eigenen auch noch die Probleme anderer Leute. Zwar bleibt der drohende Computer-GAU aus, doch die Leben der drei und die ihrer Freunde werden zum neuen Jahrtausend nicht vom Schicksal verschont.

Timofey Kuljabin verlagert Maxim Gorkis Stoff in die USA, macht die Figuren zu Migranten. Seine »Kinder« haben Mütterchen Russland verlassen und leben nun im Sonnenstaat Kalifornien. Von der Sonne allerdings, sieht man im Stück nicht allzu viel, denn Kuljabins Bühne bietet nur Innenräume, beherrscht von Weiß und eintönigem Braun-in-Braun. In kargen Wohnungen und Universitätsfluren erfahren wir, dass Mediziner Boris vorhat, Lisa zu heiraten, seine Halbschwester Melania sich nach Pawel verzehrt und dass der Künstler Dimitry unsterblich in Elena verliebt ist. Sie alle wären sich in der Heimat wahrscheinlich nie begegnet, doch es hat sie nach Amerika verschlagen, in dieses neue, kleinrussische Beziehungsnetz.

Über dem Stück schwebt die Frage nach Zukunft und Vergangenheit. Ist Wladimir Putin, der zum Jahreswechsel 1999/2000 den alternden Boris Jelzin als starken Mann ablöst, dem Neuen oder dem Alten verpflichtet? Den ungewissen zeitlichen Schwebezustand hat der Regisseur sichtbar gemacht, denn über der Bühne wird den Zuschauern stets Datum und Uhrzeit der aktuellen Handlung angezeigt. Doch diese Angaben werden unzuverlässig, wenn sich das Stück einem Spiel aus Gegenwart, Gleichzeitigkeit und Unzeitigkeit hingibt. Auch die Räume werden instabil, ragen ineinander, verschmelzen. Der Unterschied zwischen alter und neuer Heimat wird vage.

Die Silvesternacht schließlich wird zum Wendepunkt. Während auf dem russischen Sender der neue Präsident die Neujahrsansprache des alten beendet, wird den Freunden klar, dass die sehnlichsten Wünsche bislang unerfüllt geblieben sind. Etwas bricht weg im neuen Jahr und es wird klar, dass Lisas Anfälle düstere Visionen beinhalteten. Es wird anders im Januar 2000 und doch bleibt vieles gleich. Am Ende sitzt Pawel wieder vor seinem Computer.

Kujabins »Kinder der Sonne« stellt Fragen. Warum bekommt man etwas, das man nicht will? Soll man etwas wollen, das man nicht bekommen kann? Das Novosibirsker Ensemble »Rote Fackel« verkörpert buchstäblich seine Figuren, wenn die unter der Oberfläche brodelnden Gefühle in schreienden Liebesbekundungen, poetischen Ergüssen und hoffnungsbeladenen Debatten über das Gute im Menschen ausbrechen. Doch auch sie haben letztlich keine Antworten parat.
Martin Siegmund / Fotos: Frol Podlesniy

weitere Vorstellung im Rahmen des Karussell-Festivals am 19.1.2020 um 19 Uhr im Festspielhaus Hellerau.



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