Mein Nachbar ist mein Feind – Szene:Flandern mit »Bonanza« von Berlin Co. im Societätstheater
Wenn an einem Ort auf der Erde sieben Menschen zusammen leben, kann man dann von einer Stadt sprechen? Ende des 19. Jahrhunderts, zur Zeit des Goldrauschs, herrschte in Bonanza, Colorado, Hochkonjunktur. Die Stadt lebte vom Bergbau. Es war eine Stadt der Bergarbeiter und Huren. Es gab Tanzsäle, eine Schule, ein Rathaus, feste Bürgersteige und ein Baseballteam. Es gab eine stadteigene Zeitung, Ärzte und Rechtsanwälte, Hotels und eine Bank, eine Bäckerei sowie Geschäfte für Lebensmittel, Bekleidung, Zigarren, Baumaterialien und Möbel.
Im Jahre 2006 ist Bonanza ein fast vergessener Ort. Sieben Menschen wohnen hier als permanent residents: Ed und Gail, Richard, Mary, Mark, Darva und Shikia. Radio- und Fernsehempfang sind fast nicht vorhanden, das Trinkwasser steht unter Verdacht, durch den Erzabbau in den Minen vergiftet zu sein, und die nächste Tankstelle ist eine Vierteltankfüllung weit entfernt.
Die Videoperformance »Bonanza« ist ein Lehrstück über das Landleben. Eingangs hört man von den Bewohnern, an keinem anderen Ort der Welt leben zu wollen. Doch nach und nach brechen die Fassaden auf und es offenbaren sich Einsamkeit, Misstrauen und Missgunst. Jeder, der auf dem Dorf gelebt hat, kennt die Diskurse auswendig: Der eine hat sich amGemeindeeigentum bereichert, die Zugezogenen haben eine abweichende Weltanschauung, dieser oder jener hat noch ganz andere Leichen im Keller – aber schlimmer als die Leute im Ort sind die Leute aus dem Nachbarort. Man belauert sich, man verklagt sich gegenseitig vor Gericht – doch niemals spricht man miteinander.
Das Künstlerkollektiv Berlin (Bart Baele, Caroline Rochlitz und Yves Degryse) hielt sich 2006 für zwei mal drei Monate in Bonanza auf. Unter einer maßstabsgetreuen Nachbildung der Stadt erzählen sie auf fünf Leinwänden vom Leben der Einwohner: Je Haus eine Leinwand, je Leinwand eine andere Geschichte. Weit mehr als eine Dokumentation, übernehmen die Leinwände die Rollen der Akteure: sie »sprechen« neben-, über- und gegeneinander. Durch eine beeindruckende Dramaturgie verdichtet sich das Geschehen immer mehr und nimmt den Zuschauer mitten in den Kleinkrieg der Einwohner hinein.
Bonanza gehört zu dem Zyklus »Holocene« von Berlin, der Portraitierungen von Orten vornimmt. Mit verschiedenen Techniken und Medien werden – ausgehend von einem spezifischen Thema – Reportagen erarbeitet, die bewusst in unterschiedlichen Kontexten präsentiert werden: in Theatern und Museen, bei Festivals oder auch on location. Mehr dazu unter berlinberlin.be/nl/project/bonanza/ Annett Groh/ Copyright Fotos: Berlinberlin.de, Geert De Vleesschauwer
Nächste Aufführung: 10.4.2014, 20 Uhr.
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