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»Fast ganz nah (euer Krieg ist unser Krieg)« im Kleinen Haus
Auf die Frage, wie ihre Utopie von Theater aussähe, antwortet Autorin Pamela Carter: »Vielleicht sieht eine utopische Aufführung aus wie die Aussicht vom Gipfel eines schottischen Berges mit einer göttlichen Ausstrahlung wie eine Bill Viola-Installation. Aber sie kann trotzdem eine schmutzige Pornoästhetik haben und düster aussehen wie der Kanal vor meinem Haus. Sie wäre fröhlich und geistreich wie die Neons von Bruce Nauman und flauschig wie ein Chinchilla. Aber auch sexy und sportlich wie eine Show von Michael Clark. Ich stelle mir einen überfüllten Saal voller begeisterter, bewegter, verwirrter, völlig ausgeflippter Zuschauer vor… Klingt das mehr nach Hölle als nach Utopie?«
Am Premierenabend durfte man erleben, wie ernst es der Londoner Autorin mit der Verwirklichung ihrer Utopie ist. Blut und Fäkalien, Gedärm und Sex, vier scheintote Soldaten, die in Afghanistan Opfer eines Selbstmordanschlages wurden und die verstümmelt und blutüberströmt in Leichensäcken ein Zeltlager veranstalten. Mit »Fast ganz nah (euer Krieg ist unser Krieg)« hinterfragt Pamela Carter die Verteidigung demokratischer Werte am Hindukusch, heißt es in der Stückbeschreibung. Angesichts dessen, was sich auf der Bühne abspielt, wird diese Absicht zur bloßen Krücke, da scheint der Titel schon alles zu sagen: Nähe ist relativ, manipulierbar. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Doch zu wie viel Verrat und Beliebigkeit ist er fähig? Soziale Beziehungen sind kontextgebunden und können benutzt werden. Aus den Augen aus dem Sinn.
Im Stück greifen scheinbar unterschiedliche Handlungsstränge durch Rückblenden und überraschende Wendungen immer mehr ineinander: Die 41-jährige Louise, von ihrem Mann getrennt und vom Sohn – großartig gespielt von Kinderdarsteller Anton Petzold – entfremdet, versucht sich an ihrem Comeback als Künstlerin. Mit dem 22-jährigen Nacktmodell Kevin, der sich später für den Einsatz am Hindukusch freiwillig melden wird, beginnt sie eine Affäre. Während Kevin (André Kaczmarczyk) mit drei gefallen Kameraden im zerfetzten Körper über die Bühne geistert und mit grandios gespielter bitterböser Ironie nach letzten Anzeichen von Lebendigkeit fahndet, arbeiten sich Louise und Ed, leider Längen erzeugend, an der Erziehungsaufgabe ihres Sohnes ab. Dass sie am Ende als wieder vereintes Paar aus der Szene gehen, bleibt inhaltlich unschlüssig, schließt aber den Kreis: der Mensch ist anpassungsfähig und jederzeit bereit zum Verrat. AS

weitere Termine: 12.4./16.4./3.5./10.5.2013, jew. 19.30 Uhr



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