Entdecke die Möglichkeiten! - »Poesie der Resonanz« an den Landesbühnen Sachsen
16. Oktober 2022 - Einen neuen Job sollte man mit Enthusiasmus angehen, sonst wird das nichts. Diesem Credo gemäß stellte sich die neue Künstlerische Leiterin der Tanzcompagnie an den Landesbühnen Natalie Wagner mit ihrer ersten Arbeit vor und hat gezeigt, dass sie ihren Job ernst nimmt.
Sie packt ihr gesamtes Ensemble auf einmal auf die Bühne, Abgänge gibt es bis zum Schluss keinen einzigen, und schickt ihre Truppe unter einem ausgesucht ausgefeilten Soundtrack von Lenard Gimpel in eine Ansammlung verschiedenster sozialer Dynamiken.
Als organische Masse, am Boden liegend, atmend, beginnen die Tänzerinnen und Tänzer „Poesie der Resonanz“, wobei der Titel nur vermeintlich auswechselbar daher kommt. Bereits in ihrer Master Arbeit im Aufbaustudiengang Choreografie an der Palucca Schule hatte sich Natalie Wagner mit Resonanzen beschäftigt, indem sie die Herzfrequenzen des Publikums als Reaktion auf die Performance aufgezeichnet und in Kombination mit von den Zuschauern ausgefüllten Fragebögen ausgewertet hat.
Hier sind es jetzt soziale Dynamiken, die für sie im Vordergrund stehen, wie sie auch im Anschluss an die Premiere im Rahmen des Publikumsgesprächs erläutert hat. So war zu erfahren, dass auf der Folie der konkret vorgegebenen musikalischen Komposition Improvisationen des Ensembles in vielen Szenen insofern die Grundlage darstellen, als dass die Gruppe gemeinsam ihre jeweilige Dynamik für den Moment finden muss. Teil dessen sind auch Konflikte auf der Bühne, zwar bewusst gesetzte, aber mit jeweils offenem Ausgang. So erkämpft sich in einem Teil der Arbeit jemand aus der Truppe den Status als Individuum und Aggressor, die oder der sich ein „Opfer“ auserkoren darf. Recherchen über Schwarmintelligenz lägen der Arbeit auch zugrunde, war zu erfahren. Schlussendlich führt dieser Ansatz zu einem für die Tänzerinnen und Tänzer im Sinn von Dynamiken tatsächlich streckenweise offenen Ablauf der Performance, Angst vor dem, was geschehen könnte inklusive, aber auch erhöhte wechselseitige Achtsamkeit.
Diese agile Gemeinschaft setzt sich aus Einzelwesen zusammen, aber nicht aus Individuen: Alle sind in hautenge Ganzkörpertrikots gekleidet, die, unter Verwendung zarter Linien, die Assoziation zur menschlichen Haut in den Vordergrund stellen. Dieser große Organismus, diese biologische Einheit braucht eine ganze Weile, bis sie aus ihrem amorphen Zustand langsam in die Höhe wächst, Extremitäten daraus hervor wachsen und schließlich ihre Einzelteile sichtbar macht. Dabei entstehen durchaus reizvolle Bilder, die sich dramaturgisch sehr viel Zeit lassen. Leider gilt das für den gesamten Abend. Viele Momente werden bis zum letzten Punkt und darüber hinaus auserzählt, wobei mehr performt als getanzt wird, was die Komplexität des Bewegungsvokabulars eher überschaubar sein lässt. Und immer wieder kreisen alle wie irre mit den Armen. So viel hätte es da gar nicht gebraucht, denn die komplexen Sounds von Lenard Gimpel sind weit mehr als bloßes atmosphärisches Beiwerk. Das akustische Spiel zwischen Geräuschen, Klängen und dem, was man Musik nennen mag, bringt eine beeindruckende Bandbreite mit.
Trotz wiederholter Tempiwechsel und bemerkenswerten Stimmungswechseln der Sounds kommt „Poesie der Resonanz“ komplett ohne dramaturgische Brüche aus. Alles fließt, entwickelt sich, verdichtet sich, findet seinen momentanen Höhepunkt und fällt wieder in sich zusammen, bevor neue Dynamiken entstehen. Dabei gibt es für das Publikum viel zu entdecken, vor allem in jenen Szenen, in denen die „Teile des Ganzen“ miteinander agieren und dabei zeitweise so etwas wie ein Bewusstsein zu entwickeln scheinen. Da kommt es zu bedrohlichen Momenten voller Aggression, Macht und deren Missbrauch. Diese scheinbare Evolution hat aber ihre Grenzen. Von Menschwerdung kann hier nicht die Rede sein, zu sehr bleiben diese Elementarteilchen ganz ohne Individualismus und kehren immer wieder zurück in die anonyme Masse. Bis sich schließlich einzelne Bereiche abspalten, verschwinden und möglicherweise irgendwann, an einem ganz anderen Ort, eine neue kleine Gemeinschaft gründen.
Rico Stehfest / Fotos: Julius Zimmermann
nächste Vorstellung: 22.10., Landesbühnen Sachsen, Radebeul, 19 Uhr.
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