Du bist, was Du siehst? – Eine kluge Performance schafft im riesa efau eine »parallel situation«
15. Juli 2017 – Es empfiehlt sich tatsächlich, der Aufforderung im Programmzettel Folge zu leisten und sich genau anzuschauen, was da gegenüber dem Publikum an der Wand der Runden Ecke des riesa efau hängt. Es ist ein kleines Buch, aufgeschlagen zeigt es zwei Fotografien in schwarz-weiß. Links die Tänzerin Niddy Impekoven (1904-2002) in dramatisierter Pose, rechts Tänzerinnen der Laban-Gruppe. Das Buch stammt aus dem Jahr 1931. Impekovens Pose, die durch das Foto eingefroren und auf ewig abrufbar ist, spielt in der Performance von Anna Till eine entscheidende Rolle. Immer wieder versucht sie, genau jene Pose nachzustellen, nachzuempfinden. Das Ergebnis wird augenblicklich von Barbara Lubich fotografisch festgehalten und per WiFi durch den Raum geschickt. Zwei Beamer projizieren die Arbeitsergebnisse für die kritischen Augen des Publikums auf große Leinwände. Ja, in Echtzeit. Da ist nichts vorproduziert.
Soweit die Rahmenbedingungen. Was damit aufgetan wird in dieser »parallel situation«, dem Nebeneinander von Realität und deren Abbild(ung), ist ein geschickter Diskurs, der nicht erst mit der rasanten Entwicklung digitaler Medien entstanden ist, seitdem aber enormen Aufwind erfahren hat. Unsere Wahrnehmung verändert sich zusehends. Realität und Abbild überblenden sich. So auch in dieser Performance. Bedeutungsgewichtung ist dabei nie in einem Gleichgewicht zu finden. Anna Till bewegt sich zu schnell und ohne Pause. Barbara Lubich tänzelt erfolglos um sie herum, den Finger immer auf dem Auslöser. Stellt die Anwesenheit der Fotografin einen Störfaktor dar? Wäre Anna Tills Performance ohne deren Dokumentation »realer«? Oder »weniger real«? Existiert es, wenn es nicht dokumentiert ist? Ist es wahr? Ist es tatsächlich geschehen? Beweist die Tatsache, dass ein Foto existiert, irgendetwas?
Barbara Lubich und Anna Till ziehen sich in ein lose zusammengezimmertes Papphaus zurück und entziehen sich damit den Blicken des Publikums. Dadurch bricht die Grundlage dieser speziellen Kommunikationssituation einfach weg. Privatsphäre? Unerhört!
Kurz taucht die Kamera auf, das Blitzlicht blendet das Publikum, und im nächsten Moment sehen wir uns selbst, projiziert auf die Leinwand. Das Publikum, in braver, zugewandter Geste blickt sich selbst im Spiegel entgegen. Kuhäugig, überrascht, oder doch gelassen. Dieses dem eigenen Blick Ausgesetztsein referiert auf den ganzen großen Rahmen dieses Diskurses, der mehr Fragen aufwirft, als Antworten zu liefern scheint.
Das ist alles angenehm unaufgeregt. Bühne, Licht und Ton bilden eine kluge Einheit. In Zeiten der global grassierenden Selfie-Krankheit und dem damit verbundenen Selbstdarstellungswahn im Internet zieht diese Arbeit auf richtige Weise kurz mal die Handbremse an. Wer dadurch ins Schleudern gerät, wird zum Nachdenken angeregt. Vielleicht gelingt uns dann auch eine Erklärung dafür, dass es immer mehr Gaffer bei Unfällen zu geben scheint, deren Neugier nicht genuin sondern von stumpfsinniger Gleichgültigkeit überlagert ist.
Rico Stehfest / Fotos: Clemens Mart
nächste Vorstellungen: 15. Juli, riesa efau, 20.30 Uhr; 9. Dezember, Festspielhaus Hellerau, 21.30 Uhr; 10. Dezember, Festspielhaus Hellerau, 20.00 Uhr
|
|
|