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Die Kirschen hängen noch immer in der Mitte – Forsythes »Impressing the Czar« reißt das Semperopernpublikum von den Sitzen
23. Mai 2015 – Bislang durften nur wenige Ensembles weltweit William Forsythes Arbeit »Impressing the Czar« ins Repertoire nehmen. Dass nun dem Ballett der Semperoper diese Ehre zuteil wird, überrascht nach all den Jahren, in denen Forsythe eng mit dem Haus zusammenarbeitet, nicht. Erfreulich ist diese Tatsache aber dennoch. Denn es lohnt sich, ausgerechnet ein Stück aus dem Jahr 1988 noch einmal erleben zu können. Entscheidend ist aber, diesen bunten Jahrmarkt in jedem Fall vor dem Hintergrund seines Alters zu lesen.


Vor fast 30 Jahren war der Balletterneuerer Forsythe eben noch nicht der, der er heute ist. Rückwärts gelesen nickt man angesichts der ironisch-opulenten Einrichtung des ersten Aktes dieses Handlungsballettes ohne Handlung. Forsythe zertrümmert in diesem Teil, der den Titel »Potemkins Unterschrift« trägt, im Zeitraffer die Ballettgeschichte und fackelt quasi das Stäbchenkorsett ab. In wüsten tableau vivants dreht er klassischen Aufführungstraditionen eine lange Nase. Welche Wirkung das zum Zeitpunkt der Uraufführung gehabt haben mag, kann man nur erahnen. Letzten Endes hat Forsythe mit dieser Arbeit in jeder Hinsicht den Boden für das Ballett des 21. Jahrhunderts bereitet.


Besonders der zweite Teil, das ursprünglich eigenständig im Auftrag der Pariser Oper erarbeitete »In the Middle, Somewhat elevated«, dessen Titel auf die Position eines Paares goldener Kirschen verweist, das über der Bühne hängt, hat Forsythe in seinem gesamten Schaffen nach vorn katapultiert. Die liebevoll-respektlose Annäherung an die Ballettgeschichte im ersten Teil wird hier durch virtuoses choreographisches Arbeiten handwerklich weitergetrieben. Das klassische Vokabular wird überdehnt und mit strenger Energie zu höherer Geschwindigkeit getrieben. Dazu aus den Lautsprechern Thom Willems' »lässiges Synkopen-Geschrubbe« (ballettanz, Jahrbuch 2004). Nicht wenige Besucher werden besonders dieses zweiten Teils wegen diese Arbeit sehen wollen. Das Ensemble der Semperoper hatte es bereits im Repertoire. Dass mittlerweile auch der Palucca Absolvent Johannes Schmidt als Coryphée hier mittanzt, ist eine sehr begrüßenswerte Entwicklung.


Nach einem schrillen Ausverkauf kultureller Werte im Form einer gehetzten und überspitzten Auktion im dritten Teil bringen die beiden letzten Akte Forsythes ganz eigenen Schulmädchenreport. Weiße Blusen, schwarze Faltenröcke, weiße Kniestrümpfe, schwarze Schuhe. Brav ist hier aber keine. Alle Tänzerinnen und Tänzer tragen das gleiche Kostüm; nahezu identische Perücken machen es fast unmöglich, einzelne Tänzer zu erkennen. Dieses stampfende Kreisritual, das wie ein einziger Witz wirkt, überrollt die bisherigen Teile gerade durch das Nicht-Virtuose seines choreographischen Ansatzes. Forsythe selbst hatte es sich anlässlich der Premiere nicht nehmen lassen, die Vorstellung im Publikum zu verfolgen. Sein Dauergrinsen sprach Bände. Und er ist mit seiner nach so vielen Jahren noch immer anhaltenden Begeisterung für diesen Bruch mit der Tradition auch nicht allein. Das Premierenpublikum nötigte das Ensemble zu ungewöhnlich vielen Vorhängen und entließ es mit stehenden Ovationen.





Rico Stehfest / Fotos: Ian Whalen

Nächste Vorstellungen in der Semperoper: am 25., 27. & 28.5.2015



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