Die Geschichte vom Zeitspastiker – Hellerau bringt »Schlachthof 5« zu Gehör

25. September 2020 – Bereits mehr als zehn Jahre ist es her, so heißt es, dass der Orchestergraben im Festspielhaus das letzte Mal genutzt wurde. Jetzt bietet sich endlich wieder die Gelegenheit des Blicks nach unten, allerdings finden sich dort keine Musiker. Inmitten des Publikums, das auf weißen Drehstühlen im gesamten Saal verteilt sitzt, liegt die Öffnung im Boden, wie eine Grube, in der Wolf-Dieter Gööck stumm Billy Pilgrim gibt, den Zeitreisenden aus dem Roman von Kurt Vonnegut. Wer nicht einen Stuhl direkt am Rand der Öffnung ergattern konnte, kann das Geschehen nur per Live-Video verfolgen. Das macht aber nichts. Nicht nur, dass im gesamten Großen Saal des Festspielhauses an jeden Ecken und Enden agiert wird (daher die Sinnhaftigkeit der Drehstühle), das Publikum erhält auch die Möglichkeit des zweimaligen Platzwechsels. Gemächliche Reise nach Jerusalem. Das lohnt sich. Dieser Wechsel der Perspektive ermöglicht tatsächlich eine jeweils neue Raumerfahrung. Auf den hinteren Galerien, auf der Empore, auf den Seitenbühnen, selbst im Dalcroze- und im Nancy-Spero-Saal lassen sich dank der geöffneten Türen einzelne Performances verfolgen.


Die Kombination von (Live-)Videos, Gesang (AuditivVokal Dresden) und Performance (Choreografie: Vladimir Varnava) erlaubt der Inszenierung (Regie: Maxim Didenko) genreübergreifende Verzahnung einzelner Details, wodurch die Bruchstückhaftigkeit und Sprunghaftigkeit des erzählten Stoffes mühelos aufgegriffen wird. Linearität von Zeit oder Raum gibt es in Vonneguts Roman nicht. Und deshalb auch hier nicht. Damit ist jedem im Publikum die Individualität des Erlebnisses garantiert.


Getragen wird der Abend ganz deutlich von den acht Sängerinnen und Sängern, die teils in weißen Schutzanzügen von der Empore aus, teils aus rollbaren, hygienisch sicheren transparenten Kabinen heraus agieren. Neben ihnen fügen sich Videos und Performances als Ergänzungen bei, bleiben aber ganz klar Zusatz, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Das macht den Abend leicht goutierbar. Das gelingt auch besonders beeindruckend durch den Ansatz, den Wahnsinn der Zerbombung Dresdens, die den Tiefpunkt Vonneguts Erzählung darstellt, äußerst reduziert und zurückhaltend und damit besonders eindringlich zu gestalten.


Trotzdem bleibt der eigentliche Protagonist der Große Saal selbst, der sich, gänzlich offen, in seinem Weiß zeigt. Bewusst ist diese Arbeit für genau diesen Raum geschaffen worden. So nehmen sich die Videos beispielsweise in ihrem Schwarz-Weiß-Charakter dezent zurück.
Das, allerdings, scheint zu bedeuten, dass die Architektur ein statisches räumliches Arrangement vorzugeben scheint. Wann immer Künstler diesen Raum entdecken, wirkt es, als ähnelten sich die Ergebnisse in der Auseinandersetzung damit. Da werden Tänzer auf den hinteren Galerien platziert, hübsch vereinzelt zwischen den Säulen. Da wird die Phalanx der Sänger auf der Empore aufgereiht wie Perlen auf der Kette. Die geraden Linien und rechten Winkel werden gerade durch die Vereinzelung der Performer nicht aufgebrochen. Hier liegen zweifelsfrei coronabedingte Sicherheitsabstände hinter dem räumlichen Arrangement. Das sollte nicht vergessen werden. Und eine solche räumliche Komposition funktioniert auch ein jedes Mal aufs Neue in beeindruckendem Maß. Aber bei einer so raumgreifenden Arbeit der Architektur mit einer individuellen Replik zu begegnen, das wäre doch mal was.

Rico Stehfest / Fotos: Stephan Floss




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