Der Mensch ist wunderschön – Sasha Waltz & Guests betören in Hellerau mit einer »Kreatur«

28. September 2019 – Alles so schön sauber hier. Sasha Waltz‘ Bühne ist leer, schwarz, nur am rechten Rand steht eine schmale Treppe, weiß, rein, klinisch. Wenn sich dann die ersten Mikroben im anfänglich fahlen Licht langsam durch den Raum bewegen, meint man sich in einem biochemischen Labor. Das klare, aber trotzdem nicht kalte Lichtdesign von Urs Schönebaum zeigt, wie schön hier alles ist. Die Designerin Iris van Herpen hüllt die Tänzer als erstes in fluffige Wolken. Es ist die Ursuppe, mit der diese Genese des Menschen beginnt. Und die braucht Zeit. Die nimmt sich die Dramaturgie auch. Und obwohl die Geschichte schnell klar ist, trägt bis zum Schluss in jeder neuen Szene die Frage, wie es weiter geht mit diesen Geschöpfen.


Die Idee, die Entwicklung biologischen Lebens und damit die Entstehung menschlicher Zivilisation und Kultur zu interpretieren, ist im Performance-Bereich vielleicht eine der nächstliegenden. Unzählige Choreografien sind auf dieser Basis bereits entstanden. Gelingt es also Sasha Waltz, der Reflexion ihr eigenes Kapitel hinzuzufügen? Definitiv. Ihr ästhetischer Ansatz ist ein Augenschmaus, jeder Moment lässt fotogene Bilder entstehen, wenn sich langsam Haut bildet, Körper entstehen, aus denen irgendwann der Mensch werden will.

Die 14 Tänzer sind fast nackt, wie aus Reagenzgläsern oder Inkubatoren heraus entwickeln sie sich makellos schön und steril, fast perfekt, nur eben noch ohne jeglichen Anflug von Individualität. Es ist erst die Herde, die Gruppe, der Schwarm, aus dem heraus so etwas wie Sozialisierung ihre Anfänge nimmt. Das geht mit einer Erhöhung der Geschwindigkeit einher, sowohl im Bewegungsvokabular, das entsprechend an Komplexität gewinnt, als auch in der akustischen Ausmalung (Soundwalk Collective). Alles wird kantig, hart, schnell. Instinkte vermischen sich mit Emotionen, Ritual mit Sex. Begibt sich die Gruppe schließlich auf die dann doch erstaunlich schmale Treppe, kommt es zur sinnbildlichen Auslese. Die einen rutschen ab, gleiten in Richtung Abgrund. Die anderen schaffen den Aufstieg und erklimmen eine hohe Wand. Survival of the fittest.

Und plötzlich ist tatsächlich so etwas wie Kultur sichtbar. Mit einem einfachen Pfahl wird das Werkzeug zur Waffe, kommt es zu einem Kreuzzug ohne Kreuz. Gleichzeitig will Sprache entstehen, das für den Menschen wichtigste Instrument der Identitätsstiftung. Was damit einhergeht, ist bekannt: Konflikte, Machtgefälle, Missbrauch. Der Mensch allein ist sich aber selbst nicht der einzige Feind. Iris van Herpen lässt eine Tänzerin zu einem stachligen Virus in schwarzem Zentai mutieren, der den Einzelnen angreift und schwächt. Zunächst will man meinen, die DNA des Menschen wäre diesen Angriffen schutzlos ausgeliefert und könne nur mit dem eigenen Tod darauf reagieren. Hier zeigt sich allerdings die Stärke der Gruppe, der Gemeinschaft im besten Sinn, wenn dem Schwachen aufgeholfen wird, wenn er gestützt wird, bis die Heilung vollendet ist. Schließlich nutzt die geschlossene Gemeinschaft diese Dynamik, um dem Virus den Garaus zu machen. Diese Gegenkräfte sind konstruktiv, unterm Strich ist es aber die Endlichkeit der Biologie, die Werden und Vergehen so unumstößlich in sich birgt. Also wird Altes von Neuem abgelöst, ersetzt. Das ist kein Kreislauf, vielmehr eine lineare Entwicklung.


Die Dramaturgie nutzt diese Zäsur, um die augenscheinliche Geradlinigkeit der Entwicklung in eine andere Richtung zu lenken. »My heart is empty«, verrät Nicos Stimme aus dem Off. »I am looking for the strangler / To help me, help me with my crime / Show me the way to warning / Warning for the morning light / I will stab it with a knife«. Nichts ist mehr wie vorher. Der Mensch hat seine Unschuld verloren. Was diese sinnbildliche Pest zurückgelassen hat, ist Leere, Sinnleere. Übrig geblieben ist eine pervertierte Konsensgesellschaft, die sich in inhaltslosen Gesten ergeht, ohne jegliche Beziehung zueinander. Und dann? Ist das der Gipfel der Menschwerdung? Kuhäugige Roboterwesen? Sasha Waltz entlässt den Zuschauer mit einem Hoffnungsschimmer. Es ist da noch einmal so ein Reagenzglas, in dem noch einmal ein junges, unschuldiges Wesen hockt.


Diese Geschichte ist völlig frei von doppeltem Boden. Da scheint keine Andeutung hinter irgendeiner Geste zu liegen. Entsprechend leicht zugänglich kommt alles daher, aufgeräumt, schön, bildgewaltig. So schön ist der Mensch. Und so winzig.

Rico Stehfest / Fotos: Sebastian Bolesch

nächste Vorstellung: 28. September, Festspielhaus Hellerau, 20 Uhr.



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