■ Der Zuschauer begleitet in »Boyhood« die gesamte Kindheit eines introvertierten Jungen, durchlebt seine Familienkrisen und sieht ihn zum jungen Mann heranreifen. DRESDNER-Autor Martin Schwickert sprach mit Regisseur und Drehbuchautor Richard Linklater über das ungewöhnliche Filmprojekt und welche Rolle die Kindheit im Leben spielt.
Was war die Ausgangsidee für dieses Langzeitprojekt und wie hat sich diese Idee in der zwölfjährigen Produktionszeit verändert?
Richard Linklater: Ich wollte einen Film über Kindheit machen, konnte mich allerdings einfach nicht für eine bestimmte Phase der Kindheit entscheiden, weil mir jedes Alter auf seine Weise interessant erschien. So kam die Idee auf, einen Film über die gesamte Entwicklung vom sechsjährigen Jungen bis zum achtzehnjährigen Erwachsenen zu machen, indem man jedes Jahr ein bisschen dreht. Ich habe jedes Jahr mein Konzept noch einmal neu überprüft und das vorhandene Material immer wieder umgeschnitten. Aber am Ton der Erzählung und der Art der Wahrnehmung hat sich nichts geändert.
Woher kommt Ihre Vorliebe für das Vergehen der Zeit und für Jahre andauernde Projekte wie dieses und die »Before«-Reihe?
Richard Linklater: Eigentlich habe ich in meiner gesamten Laufbahn als Filmemacher mit den erzählerischen Möglichkeiten der Zeit herumexperimentiert. Der Faktor Zeit gehört zu den wichtigsten Vermögenswerten des Kinos. Ob es nun ein kleiner Ausschnitt ist, den man ich Echtzeit erzählt wie in »Before Sunset«, oder ein Langzeitprojekt wie »Boyhood«. Ich versuche herauszufinden, was Zeit eigentlich ist, sowohl als aktiver Faktor in einer Geschichte als auch im echten Leben. Die komplexeste Beziehung in unserer Psyche ist das Verhältnis, das wir zu unserer Vergangenheit haben. Sich zu erinnern, wie man als Sechsjähriger, als Teenager und als junger Erwachsener war und das mit dem eigenen heutigen Sein zu vergleichen – das ist ein sehr komplizierter und hochinteressanter Prozess.
Ein Prozess, der auch beim Zuschauer in Gang gesetzt wird?
Richard Linklater: Ja, genau! Ich sehe jetzt, dass der Film von jedem Zuschauer je nach Alter etwas anderes einfordert. Was man in dem Film sieht, hängt sehr stark von der eigenen Lebenserfahrung ab. Leute, die jetzt um die 20 sind, mögen den Film, weil er ihr eigenes Leben zeigt. Andere denken an ihre Eltern und wenn man selbst Kinder hat, bekommt man wieder einen ganz anderen Blick.
Wie sehen Sie Kindheit: als offenen Raum, in dem alles möglich ist, oder als Käfig der Sozialisation?
Richard Linklater: Das ist die große Frage. Ich denke, beide Ebenen überlagern einander ständig. Man liegt als Kind im Gras, schaut in den Himmel und das Leben steckt voller Möglichkeiten. Aber um das Kind herum ist die straffe Struktur der Familie und der Schule, die die Verbindung zur realen Welt herstellt. Wenn Mason mit seinem Vater darüber spricht, ob es eigentlich Elfen gibt, erkennt er die Grenzen der Realität. Umgekehrt zeigt die Szene auch die Herausforderung des Erwachsenendaseins: Denn eigentlich ist die Realität sehr viel erstaunlicher als alle Elfen zusammen. Aber man muss härter daran arbeiten, um sich das Glück und die Schönheit realen Welt bewusst zu machen.
Sie zeigen Mason als einen eher passiven, beobachtenden Jungen. Inwieweit ist diese Haltung auch das Ergebnis der schwankenden Familienverhältnisse?
Richard Linklater: Als Kind ist man vollkommen machtlos. Man hat keine ökonomische Freiheit. Man kann die Entscheidungen der Erwachsenen kaum beeinflussen. Man sitzt fest mit diesen Eltern und versucht sich in diesen Beschränkungen so gut es geht einzurichten. Das passive Element gehört zur Kindheit dazu, weil man nur zu einem sehr kleinen Teil der Bevollmächtigte seines eigenen Lebens ist.
Warum haben Sie sich dazu entscheiden, die Geschichte dieser Kindheit in einer Scheidungsfamilie zu erzählen?
Richard Linklater: Scheidungsfamilien sind ja statistisch gesehen keine Seltenheit. Mich hat diese Form von junger Elternschaft interessiert. Die Beiden haben noch nicht zu sich selbst gefunden, als die Kinder kommen, und stellen schon bald fest, dass sie nicht zueinander passen. »Boyhood« ist ein Porträt einer Kindheit, aber genauso das Porträt einer stümperhaften Elternschaft.