■ Die Anarcho-Rock-Legende Ton Steine Scherben hat sich 30 Jahre nach der Bandauflösung wieder zusammen gerauft und kommt zum ersten Mal nach Dresden. Am 7. Oktober werden sie im Alten Schlachthof mit Überraschungsgästen spielen. DRESDNER-Autorin Ulrike Schirm hat mit Scherben-Urgestein Kai Sichtermann (Bass) und Schlagzeuger Funky K. Götzner unter anderem über ihre Neugründung, die Tour, Rio Reiser und die Aktualität des 70er-Jahre-BRD-Lebensgefühls gesprochen.
Was hat euch dazu bewegt, nach 30 Jahren wieder auf Tour zu gehen?
Kai Sichtermann: Wir haben uns 2004 schon einmal formiert unter dem Namen »Ton Steine Scherben Family«. Da waren ganz viele Leute von früher dabei, die auch mit in der Kommune gelebt haben. Aber einer fehlte: unser Gitarrist und Komponist R.P.S. Lanrue. Seit dem Tod unseres Sängers Rio Reiser sind jetzt fast 20 Jahre ins Land gegangen und Lanrue hatte nach der langen Zeit auch wieder Lust zu spielen und aufzutreten. Also haben wir uns unter unserem Originalnamen »Ton Steine Scherben« wieder zusammengefunden. Außerdem haben wir das Gefühl, dass die Leute unsere Songs hören wollen, auch weil sie immer noch aktuell sind.
Wie ist es ohne Rio Reiser auf der Bühne?
Funky K. Götzner: Wenn man Rios Stimme auf unseren alten Aufnahmen hört, dann spürt man den starken Verlust schon ganz deutlich. Die Magie, die von ihm ausging, ist nicht mehr. Deswegen ist es natürlich anders auf der Bühne, aber wir und auch das Publikum haben das akzeptiert. Trotzdem leben die Songs ja weiter und wir wissen genau, dass uns Rio damit einen Schatz hinterlassen hat, an dem wir selbst beteiligt waren. Jetzt spielen wir diese Lieder einige Generationen später wieder vor Publikum, aber das Lebensgefühl, das dabei entsteht, ist auf der Bühne und beim Publikum immer noch genauso intensiv und wichtig.
Ihr habt gesagt, eure Songs würden auf die Bühne gehören, gerade die politischen. Ist aktuell wieder die Zeit dafür?
Kai Sichtermann: Eigentlich ist die Gesellschaft ständig im Umbruch. Ständig muss sich die Gesellschaft erneuern und ständig geht die Welt auch irgendwie kaputt. Und immer gibt es soundsoviele Menschen, denen das nicht passt und die sich dagegen stellen. Das wird bestimmt nicht aufhören. Und deswegen haben unsere Lieder auch nie aufgehört aktuell zu sein. Leider muss man ja sagen. Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass sich die Welt nachhaltig verändert.
Funky K. Götzner: Aber es kommt immer wieder etwas Neues dazu, das plötzlich akut wird und wo eine Veränderung stattfinden muss. Wie aktuell in der Flüchtlingspolitik.
Ist das der Grund, dass ihr die politischen Songs wieder live spielt – weil sie gebraucht werden?
Funky K. Götzner: Ja sicher! Und das Gefühl haben wir auch gerade bei den härteren Liedern wie z.B. »Macht kaputt was euch kaputt macht«. Natürlich hat der Song auch eine zerstörerische Kraft. Man kann ihn spielen, aber man muss ihn auch hinterfragen. Wir gehen nicht davon aus, dass wegen dieses Songs alles zerstört und zerdeppert wird. Der Song ist mehr Ausdruck für eine Unzufriedenheit als Aufruf zur Gewalt. Das Entscheidende aber ist, dass ganz viele Menschen im Publikum diesen Song laut mitsingen. Warum? Weil in den Leuten viele unterschiedliche Emotionen stecken. Dass die Welt immer noch so ist wie sie ist, darum spielen wir diese Songs.
Was hat sich seit den 70er Jahren bei euch verändert?
Funky K. Götzner: Früher haben wir alle zusammen gelebt, erst in Berlin und dann in Fresenhagen auf dem Bauernhof. Wir haben damals gemeinschaftlich eine alternative Lebensform gelebt und das hat auch geklappt. Aber jetzt eben nicht mehr. Wir wohnen heute auseinander. Das Scherben-Werk ist damals in dieser Zeit entstanden und darüber können wir uns glücklich schätzen und heute damit auf Tour gehen. Aber diese Gemeinschaft, wie sie damals war, gibt es heute nicht mehr.
Kai Sichtermann: Heute gehen wir mit einem eigenen Nightliner auf Tour. Wir finden das so lala, aber die jungen Bandmitglieder finden es cool.
Sind die Scherben also bürgerlich geworden?
Funky K. Götzner: Nein das kann man nicht sagen, aber wir sind nicht mehr die Jüngsten.
Kai Sichtermann: In ganz alten Zeiten haben wir noch nicht einmal in Hotels geschlafen, sondern in irgendwelchen WGs auf dem Fußboden.
Funky K. Götzner: Man kann von uns nicht mehr erwarten, dass wir wie 18-Jährige durch die Gegend kurven. Und wir wollen nicht mehr in irgendwelchen Kommuneschlafplätzen übernachten. Das muss man den Scherben zugestehen. Diese alten Kämpfe und Diskussionen – über Unterkunft und Eintrittspreise, das war damals so. Heute sind die Leute vernünftiger und wissen, dass es ökonomisch und gesundheitlich wichtig ist, dass wir über die Runden kommen.
Das erste Mal in Dresden. Welche Erwartungen habt ihr?
Funky K. Götzner: Dresden ist in letzter Zeit oft im Gespräch. Wir können uns vorstellen, dass die Leute, die in Dresden zu unserem Konzert kommen, sehr genau hinhören und wissen, was sie machen. Sie sind irgendwie in einem anderen Bewusstseinsstadium, weil sie ja die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sehr viel näher mitbekommen als in anderen Städten.
Kai Sichtermann: Davon abgesehen haben wir bis jetzt die Erfahrung gemacht, dass unser Publikum total gemischt ist. Wir waren am Anfang erstaunt, wie viele junge Leute ganz vorne gestanden haben und mitsingen konnten. Ein Zeichen dafür, dass unsere Songs auch über die Jahre gehört wurden. Und das ist ja nicht gerade das Schlechteste.
Ton Steine Scherben sind am 7. Oktober, 20 Uhr, im Alten Schlachthof live zu erleben; mehr zur Band: www.tonsteinescherben.de