DRESDNER Interviews / O-ton!
Narben sind Lebensspuren – Interview mit Paul-Henri Campbell (Foto: Tamara Stajner) zu seiner Chamisso-Poetikdozentur
Interview mit Paul-Henri Campbell (Foto: Tamara Stajner) zu seiner Chamisso-Poetikdozentur
■ Seit 2020 erlebt die Chamisso-Poetikdozentur, die von der Sächsischen Akademie der Künste zusammen mit dem Verein Bildung und Gesellschaft und den Städtischen Bibliotheken Dresden ausgerichtet wird, eine Neuauflage. Herausragende Dichter und Schriftsteller, die einen Sprachwechsel vollzogen haben, denken in der Vortragsreihe über poetologische Voraussetzungen ihres Schreibens nach. In diesem Jahr ist der 1982 in Boston geborene Dichter Paul-Henri Campbell eingeladen. Mit seinen Lyrikbänden »Space Race« (2012), »Am Ende der Zeilen« (2013) und besonders »nach den narkosen« (2017), hat er sich eindrücklich in die junge deutsche Lyrik eingeschrieben. 2019 gab er den Interview-Band »Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst« heraus. DRESDNER-Autor Aron Koban hat ihn zu seiner Dozentur befragt.

In welcher Ferne bzw. Nähe sehen Sie sich heute zu den USA?

Paul-Henri Campbell: Ich habe die allergrößte Zeit meines Lebens in Deutschland verbracht. In Boston ist meine Kindheit, die ich empfindlich und etwas verklärt hüte. Ich kam ja schon mit 13 Jahren nach Unterfranken. Mein Vater ist ein Amerikaner, meine Mutter eine deutsche Krankenschwester. Letztlich bin ich ein spätes Produkt des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges. Ich glaube, meine Mutter hat früher zu viel Karl May gelesen und mein Vater zu viel ABBA gehört.


Wie empfinden Sie den Begriff »Migrantenliteratur«?

Paul-Henri Campbell: Ich finde, wenn um Literatur herum so ein Charity-Klima entsteht, dann ist das für alle ungut. Wenn man einen Menschen achten möchte, gibt es bessere Wege, als ihn dazu zu verdonnern, ein Dramolett zu schreiben oder Geld mit wehklagenden Liedergedichten zu verdienen. Und trotzdem gibt es Stimmlagen, Zungenschläge, Versprecher und Sprachfehler, die eine neue Schwingung ins Schreiben bringen. Wie man das nennt, finde ich unwichtig, solange man es erkennt.
Literatur, Lesen, dehnt sich in meiner Lebenszeit aus, in der ich auch was anderes machen könnte. Niemand zwingt mich dazu, meine Zeit für einen Text herzugeben. Nur ein Lehrer vielleicht. Es gibt Literatur, die von sich aus interessant und anziehend ist, mich erfüllt, mich inspiriert, die mich süchtig macht. Lesen gibt aber was, was vorher nicht da war, und wird im Allgemeinen als ein hübscher oder guter – Protestanten sagen wohl als ein »lohnender« – Zeitvertreib wahrgenommen. Oder wollen Sie etwa von Texten ohnmächtig und noch depressiver werden? Darüber möchte ich während dieser Dozentur nachdenken.

Warum haben Sie Ihrer Poetikdozentur den Titel »Ins Fleisch« gegeben?

Paul-Henri Campbell: Ich fühle mich beim Schreiben manchmal wie ein Metzger. Ich mag Filetstücke, natürlich Wilde, auch Beckett und Bäckchen. Zu Hacks sage ich nicht nein. In der Früh etwas Bacon: »Die Imagination ist dem Menschen gegeben, um das zu kompensieren, was er nicht ist. Humor ist ihm gegeben, um ihn mit dem zu versöhnen, was er ist.« Beim Parieren muss man besonders genau sein, sonst hat man im Hauptgang nur sehniges Fleisch, das kaum zu verdauen ist. Bei Literaturgerichten ist mir alles, was vom Poissonier kommt, ungenießbar, außer Shelley. Tiefessefischer sind furchtbar, nicht so Merwin. Zum Saucier empfinde ich eine große Zuneigung, besonders wenn er Chaucer heißt und mit Feenstaub garniert.

Ihre jüngsten Bücher »nach den narkosen«, »Tattoo & Religion« weisen auf das Thema Körper, Körperlichkeit. Löst der Körper als Sujet das Thema Maschine, Technik und Utopie ab?

Paul-Henri Campbell: Ich glaube, der Körper ist im 21. Jahrhundert das, was die Kathedrale im Mittelalter war – der Ort, wo alles zusammenkommt, wo wir Heutigen, wer immer wir sind, uns über uns selbst verständigen, unsere Kulte betreiben, unsere wesentlichen Symbole und Geschichten markieren. Und Narben, die sind ja auch nicht nur Kratzer im Lack, sondern Spuren, Lebensspuren.


Was haben Sie in den Vorlesungen der Dozentur vor?

Paul-Henri Campbell: Naja, ich möchte der Charme in Chamisso sein. Also hoffentlich. Wenn es nicht gut geht, bin ich dann wohl die Scham in Chamisso. Ich will zeigen, was das ist, wenn wir Literatur machen. Wie sie uns inspirieren kann. Eine persönliche Perspektive entwickeln. Das heißt nicht: Literatur macht Leser mächtiger oder freier oder gesünder oder toleranter oder überhaupt zu besseren Menschen. Ich will überlegen, warum Literatur oft zu so einem Serum gegen das Böse stilisiert wird. Weil, wenn ich so auf Gedichte schaue, die ich verfasst habe, da sehe ich, dass Literatur nicht, also null, zur Therapie taugt. Sie ist vielmehr wie Tätowierungen. Sie besticht und feiert Text als einen Textkörper, dem man gerne begegnet. Die Sprache ist ebenfalls voller hinkender Vergleiche und kann unter Umständen zu Einschnitten führen.
Vielen Dank für das Gespräch!

Chamisso Poetikdozentur, am 15., 22., 29. November, jeweils 19.30 Uhr, Vortrag und Diskussion, Zentralbibliothek im Kulturpalast.

« zurück