■ Ulrich Fröschle ist apl. Professor am Institut für Germanistik an der TU Dresden. DRESDNER-Autor Stephan Zwerenz hat sich mit ihm über Meinungsfreiheit, die Charta 2017 von Susanne Dagen, die Erklärung 2018 von Vera Lengsfeld und über die Weimarer Repubik unterhalten.
Brauchen wir denn eigentlich noch die stereotype Einteilung in eine Rechte und eine Linke? Wo stoßen diese politischen Einordnungen an ihre Grenzen?
Ulrich Fröschle: Zunächst könnte man sagen: »Diese Einteilungen werden objektiv gebraucht, solange sie zu funktionieren scheinen«. Wenn man das diskursanalytisch betrachtet, was leider viel zu selten auch einmal gegen den Strich gemacht wird, dann zeigt sich, dass diese Zuschreibungen, »links« und »rechts«, sich immer dann als Elemente eines Herrschaftsdiskurses bzw. einer Diskursherrschaft erweisen, wenn sie als Einteilungen tatsächlich greifen. In einem solchen Sinn wird die Unterscheidung benutzt und ist funktional, solange sie dazu dienen kann, die einen zu deklassieren und die anderen im Diskurs zu halten. Das ist, was Foucault als Exklusions- und Inklusionsfunktion von Redeordnungen beschrieben hat, und das schien bis jetzt auch noch einigermaßen zu funktionieren, selbst wenn das eigentlich schon länger ins Rutschen geraten ist.
Wenn man sich zum Beispiel die sogenannte Linke, die Partei, ansieht, muss man anerkennen, dass dort diese als Exklusion gemeinten Zuschreibungen völlig beliebig geworden sind, wenn Sahra Wagenknecht als »rechts« etikettiert wird, obwohl sie genuin marxistische Positionen vertritt. Bei den Kommunisten gab es im übrigen ja schon unter Lenin die Rechts- und Linksabweichler, aber die Kritiker von Wagenknecht sind selten noch Marxisten und kennen sich ebenso selten in solchen linken Vorgeschichten aus. Es zeigt sich m.E. schon am Wagenknecht-Beispiel, dass die alte Schubladen-Einteilung nicht mehr greift, wenn es um eine adäquate Beschreibung der Debatten geht. Als Elemente eines Herrschaftsdiskurses, als Mittel einer Diskursherrschaft funktionieren sie aber nach wie vor noch einigermaßen, allerdings gerät das derzeit, wie angedeutet, ziemlich ins Rutschen. Und das hängt wiederum von der allgemeinen Lageentwicklung ab, also dem berühmten ökonomischen Sein. Was das betrifft, bin ich von der marxschen Analyse immer noch ziemlich überzeugt.
Nationale oder konservative Narrative stützen sich gerne auf Begriffe wie »Nation« oder »kulturelle Identität«, formulieren diese Begriffe aber meist negativ, indem sie zum Beispiel sagen: »Der Islam gehört nicht zu Deutschland.« Warum wird so selten mit einem positiven Identitätsbegriff gearbeitet?
Ulrich Fröschle: In Deutschland ist es ziemlich klar, warum es kaum einen positiven Identitätsbegriff gibt, weil sich die indigenen Deutschen seit 1945 nur als eine gebrochene kollektive Identität verstehen, ein sich selbst stets problematisches Konzept der kulturellen Selbstbeschreibung bevorzugen. Wenn man sich als Kollektiv vorrangig über das Stigma eines Massenmordes definiert, ist es schwer, ein positives Selbstbild zu entwickeln – da sind die Deutschen pikanterweise auch in ihren avanciertesten, kosmopolitischsten Exemplaren sehr kryptovölkisch: In Bezug auf die Kollektivschuld greift der Volksbegriff bei uns einwandfrei. Und das garantiert auch ethnische Stabilität, auf kleiner Flamme – denn mal unter uns: Warum sollte sich ein selbstbewußter Sohn türkischer oder albanischer Einwanderer in ein Land bzw. Volk integrieren, das sich selbst für den Abschaum der Menschheit hält? Ich bliebe da lieber Albaner, proud to be an Albanian, wie es in einem auch hierzulande verbreiteten Rap-Song namens »Albanian« von der kosovarischen Formation »Etno Engjujt« hieß.
Dagegen ist es eben schwierig, ein neues, ein positives kollektives Selbstbild jenseits des »Made in Germany« oder der Fußball-Mannschaft zu produzieren. In anderen Ländern sieht das anders aus, wenn du dir Russland oder Amerika anschaust, auch die Franzosen, Italiener, Polen oder die Israelis, dort sieht man massenweise positiv gefasste kollektive Identitätszuschreibungen, und das durchaus in unterschiedlichsten Formen.
Als Biograf von Friedrich Georg Jünger wirst du gerne von bekannten Rechtspopulisten wie zum Beispiel Götz Kubitschek zitiert oder sogar eingeladen. Hast du eigentlich Angst davor instrumentalisiert zu werden?
Ulrich Fröschle: Ich würde Götz Kubitschek nicht als Rechtspopulisten bezeichnen, sondern als Rechtsintellektuellen. Populisten sind im Sprachgebrauch des hegemonialen Diskurses die, die auf die Straße gehen und mit primitiven Parolen auf einen ominösen Volkszorn zielen – es sind dies eh Kampfbegriffe, die alles und nichts bezeichnen. Gewiss, auch Intellektuelle können auf die Straße gehen und Massenreflexe bedienen, aber sie tun dies in der Regel mit anderen Mitteln. Ich kenne Kubitscheks Reden, sie sind bei Youtube problemlos nachzuverfolgen – soweit ich das sehe, sind das besonnene, intellektuell fundierte Reden. Man bringe mir im übrigen ernsthafte Argumente, warum ich Volksparteien wie die CDU/CSU oder die SPD mit ihren »In-die-Fresse«-Reden etwa von Frau Nahles nicht als populistisch bezeichnen sollte … Warum sollte ich denn Angst davor haben, instrumentalisiert zu werden? Entscheidend ist doch, was ich wie sage und ob mir das Wort dann im Munde herumgedreht wird oder nicht. Warum sollte ich Angst davor haben, richtig und im Zusammenhang zitiert zu werden? Ich diskutiere mit allen und ich rede auch vor allen, wenn es darauf ankommt – mit gewissen Einschränkungen allerdings. Wenn ich zum Beispiel sehe, dass dem TU-Kollegen Patzelt von wohlmeinenden Mitbürgern, die sich gewiß nicht als Populisten betrachten, das Familienauto angezündet wurde, weil er anderer Ansicht als sie war, dann ist das ein Punkt, wo ich sage, da könnte ich zu einem gewissen Grade opportunistisch werden und zu manchen Dingen und Leuten besser nichts sagen. Aber grundsätzlich widerstrebt mir das, wenn mir jemand diktiert: »Mit dem darfst du nicht reden oder die dürfen dich nicht zitieren, das sind Schmuddelkinder«. Denn das ist etwas, das zutiefst freiheitsfeindlich ist. Ich glaube immer noch an die Kraft des Arguments, wenn ich daran nicht glaubte, dann hätte ich meinen Beruf verfehlt. Ich weiß natürlich auch als Realist, dass die Argumente nicht immer durchdringen, aber ich will zumindest danach leben, sagen zu können, ich produziere Schriften und daran kann ich gemessen werden, die dürfen beurteilt werden. Jemand der darüber befindet, kann ja im Textvergleich immer noch sagen: »Das ist eine Falschaussage« oder »das entspricht tatsächlich dem, was er gesagt hat«. Aber ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn mich Sahra Wagenknecht oder Götz Kubitschek zitieren würden. Ich halte den Kubitschek übrigens für einen integren Mann – ich kenne ihn auch persönlich.
Bei dem Gespräch »Streitbar! Wie frei sind wir mit unseren Meinungen?« zwischen Uwe Tellkamp und Durs Grünbein im Kulturpalast, meldete sich auch Götz Kubitschek und meinte, er wolle den Riss in der Gesellschaft weiter vertiefen. Wie deutest du seine Aussage?
Ulrich Fröschle: Ich bin nun kein Kubitschek-Deuter, da fühlen sich andere »Experten« sicher berufener. Aber ich würde das so interpretieren, dass man bei uns dazu tendiert, Streitfragen zuzukleistern; manche Dinge müssen aber ausgetragen werden. Ich kann mir nur vorstellen, dass es in diese Richtung geht, denn die Diskussion zwischen dem Romancier Tellkamp und dem Lyriker Grünbein habe ich leider verpasst. Einen solchen Riss über Streitfragen gibt es natürlich, das steht für mich außer Frage. Dieser Riss verläuft meines Erachtens zwischen oben und unten, in einem erweiterten Sinne – dies wäre meine Diagnose. Meiner Meinung nach gibt es bei uns in der BRD eine Elite, die auf der einen Seite des Grabens steht – wobei ich »Elite« wertneutral verwende, also nicht in dem Sinne, ob diese Leute einen solchen Begriff durch Leistung verdienen oder nicht, sondern einfach als Funktionsbeschreibung. Ich meine damit also Leute, die in Machtpositionen sitzen, ganz handfest, aber auch auf eine vermittelte und vermittelnde Weise: Es gibt nämlich auch den idealtypischen Intellektuellen, der sich zur Elite zählt, aber nicht in dem Sinne, dass er handfeste Macht hat – was Intellektuelle haben können, ist Diskursmacht, und sie machen sich sehr oft gemein mit Positionen wirtschaftlicher und politischer Eliten, alles hier bitte idealtypisch zu verstehen. Und dann gibt es die Leute, die hierzulande schnell mit dem Verdikt »Populismus« etikettiert werden, weil sie für sich in Anspruch nehmen, sie sprächen für das berühmte breite Volk, also in deren Interesse statt dem der Eliten. Das scheint so etwas wie ein Strukturgesetz zu sein – immer suchten und suchen Intellektuelle die Nähe zur Macht, das ist ein alter Topos, immer aber gab und gibt es auch Intellektuelle, die sich abseits stellen, absondern, dissident verhalten. Man kann m.E. in der heutigen BRD recht klar sehen, dass es eine grundlegende tektonische Verschiebung im Gefüge gibt, die sich u.a. im Wahlverhalten abzeichnet. Und das ist nicht nur in Sachsen so, man hat das etwa auch in Bayern gesehen. Es ist also kein Ost-Phänomen nach dem Motto: »Das sind halt die Ossis, die Abgehängten«, was übrigens im heutigen Newspeak als »rassistisches« Narrativ eingestuft werden müsste. Es gibt also ganz offensichtlich eine Spaltung, einen Riss, der ausgehalten und ausgetragen werden muss, weil die Leute ja ganz offensichtlich zu wenig offen miteinander reden, nicht selten sofort in einen Freund-Feind-Modus verfallen. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass bei uns die öffentlichen Diskussionen nicht sachlich hart genug geführt werden. Es scheint schon eine deutsche Schwäche zu sein, dass diese Sehnsucht nach Harmonie besonders ausgeprägt ist, die aber unversehens eine hässliche Fratze zeigen kann und sich dann in einen Harmoniezwang verwandelt, damit als Gleichschaltung fungiert, denn Gleichschaltung ist ja nichts anderes als die Erzwingung von Harmonie. Dieses Harmoniebewusstsein ist bei den Deutschen ganz stark da, deshalb wird nicht Tacheles geredet. Es wird nicht so diskutiert, dass man sagen kann: »Gut, ich akzeptiere deine Meinung, auch wenn ich anderer Ansicht bin, aber wir nehmen uns dann trotzdem ernst und reden weiter miteinander.« Bei uns in Deutschland manifestiert sich der Riss leider Gottes nach aller Schönrednerei dann trotz aller harmonischen Verkleisterung doch so, dass der Andere plötzlich als Feind jenseits eines scheinbar unüberwindlichen Grabens gesehen wird. Und mit dem Feind in diesem Sinne scheint dann kein Gespräch mehr möglich zu sein. Das ist nicht wünschenswert, aber das ist genau das, was bei uns passiert. Es gibt ja so urkomische Veranstaltungen, die sich ernsthaft fragen: »Darf man mit Rechten reden?« Das allein ist schon entlarvend – der nächste Schritt wäre konsequenterweise die Frage: »Soll man Rechte markieren?« Da gibt es eine Tendenz bei vermeintlichen Linken, man müsse die Anderen, die Rechten nur exkludieren und möglichst hartem Verfolgungsdruck aussetzen, dann wären die Probleme erledigt. Mir scheint aber, dass die sogenannten Rechten nur eine Figuration, eine Verkörperung von etwas sind, das sehr weit reicht und tief geht, auch eine Projektionsfigur für staatsnahe, im Grunde mit der aktuellen Regierung emotional doch sehr verbundene Leute. In der Figur des Rechten versucht man, die eigene Delegitimierungsängste zu verdichten, zu fixieren, um sie bekämpfen zu können. Die Leute schimpfen doch überall, und zwar anders, als sie bisher immer geschimpft haben, und es ist festzustellen, dass dieser Unzufriedenheit gegenüber die altgedienten Bannwörter nicht mehr so wie früher ziehen. Es sind keineswegs irgendwelche »Neonazis«, die allenthalben demonstrieren – gewiss sind auch solche dabei, aber die können sich selbst unter demonstrierenden SPD-Genossen tummeln und dort wohlfühlen. Und dieser Riss zwischen den Leuten, die man früher die Werktätigen genannt hat, und den politischen bzw. den Deutungseliten, dieser Riss muss erst einmal benannt, der muss erst einmal ausgelotet werden. Das Verkleistern führt nur dazu, dass die Probleme sich dann mit größerer Wucht zurückmelden. Das heißt nicht, dass man sich bekämpfen muss, sondern dass man die Sachen auszudiskutieren hat, und zwar ohne den oft zu beobachtenden Vorbehalt: »Ich bin der Gute und du bist der Böse«, also ohne diese extreme Moralisierung, die bei uns jedes Gespräch vergiftet.
Gerne wird unsere Zeit mit der Weimarer Republik verglichen. Kann man da wirklich Parallelen ziehen? Und an welchen Stellen sollten vielleicht auch die konservativen Intellektuellen achtsam werden, wenn man beispielsweise an die Entwicklungen der sogenannten konservativen Revolution denkt?
Ulrich Fröschle: Damit apostrophierst du mich ja quasi als Vertreter der konservativen Intellektuellen. Das akzeptiere ich jetzt mal so, obwohl ich dazu meine terminologischen Bedenken schon geäußert habe. Nein, die heutige BRD ähnelt ganz und gar nicht der Weimarer Republik, ganz einfach deshalb, weil die Weimarer Republik ganz anders aufgestellt war. Zum einen gab es da sehr viele junge Männer, und zwar indigene junge Männer, trotz des Ersten Weltkriegs, und dies hat das Klima insofern beeinflusst, als sich diese von der Rotfront über das Reichsbanner bis hin zur SA paramilitärisch organisierten und betätigten. Die Bedeutung des Youth Bulge in Verbindung mit ökonomischer Perspektivlosigkeit hat Gunnar Heinsohn ganz gut dargestellt in seinen Forschungen zur Genese von Völkermorden. Zu einer wirklichen Eskalation, zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen wie in der Zwischenkriegszeit, fehlen hier die jungen Männer. Allerdings importieren wir die uns gerade – jene jungen Männer, die in den letzten Jahren in die BRD kamen, sind nicht selten robust in der Auseinandersetzung, was uns sensible Indigene gelegentlich vielleicht vor ganz konkrete diskursive Probleme stellen mag. Allerdings hat auch unser robust-schöner Wilder prinzipiell wenig Chancen gegen die hochgerüstete und einsatzfähige deutsche Polizei.
Der Vergleich mit der Weimarer Republik ist m.E. also eher eine billige und unzutreffende Dramatisierung. In einem ganz anderen Sinn ist dieser Vergleich zudem abzulehnen: Die Zeiten waren damals viel offener in der Debattenkultur als heute. Da hat zum Beispiel der Bertolt Brecht mit dem Ernst Jünger diskutiert, ein Walter Benjamin sich mit einem Carl Schmitt auseinandergesetzt, und umgekehrt. Das ist heute alles viel spießiger und verstockter, eben weil jeder gleich fragt – und sich fragt: »Darf ich mit dem reden? Wird von denen nicht, was ich gesagt habe, instrumentalisiert?« Im Vergleich zur Weimarer Republik sind wir geistig nicht ganz so frei, und im übrigen auch nicht einmal ansatzweise so schöpferisch und interessant. Das ist das Positive an der Weimarer Republik. Das Positive heute ist, dass die Lage viel, viel stabiler ist als die Lage damals. Wobei wir uns nichts vormachen müssen – der Hauptgrund für das Kollabieren der ersten deutschen Republik war nicht eine falsche Verfassung, sondern nicht zuletzt das totale Versagen der Parteien, die damit erst der KPD und der NSDAP ihren Aufstieg ermöglichten. Das nächste war dann die Weltwirtschaftskrise, denn es ist immer der Ernst der Lage, der die Wirkung der Ideen zu einer ernsten Sache macht (Kondylis). Und eine solche Konstellation – Versagen der Parteien und Wirtschaftskrise – ist im einen Fall auch bei uns offensichtlich, im anderen latent durchaus angelegt. Wenn der erste Dominostein im Euro-System kippt, droht das gesamte Gebäude der Verschuldungspolitik zu kollabieren, und dann ist eine »revolutionäre Situation« denkbar. Aber auch dann, so glaube ich, würden sich die Konstellationen der Weimarer Zeit nicht wiederholen.
Sind die Leute heute vielleicht auch weniger fanatisch?
Ulrich Fröschle: Fanatisch sind wir alle immer noch, aber der Fanatismus wirkt sich nicht mehr mit dieser Brutalität aus wie in der Weimarer Republik. Damals ging es auch um Geldentwertung, eine grassierende Arbeitslosigkeit, Leute haben zeitweise wirklich gehungert, der Familie war Brot zu verschaffen. Bis 1924 ging es im übrigen auch im bewaffneten Kampf drunter und drüber, wir denken ja meistens nur noch an den sogenannten Hitler-Putsch, doch es gab militante Separatistenbewegungen, kommunistische und nationalistische Putschversuche, und schließlich die Hitlersche Farce in München. Der Fanatismus ist bei uns noch genauso da, nur ist der in mancher Hinsicht feige geworden: Wie fanatisch und feige muss ich sein, wenn ich einem Mann von der Universität, dem Ort freier Rede und Gegenrede, das Auto anzünde, nur weil ich denke, der sieht die Pegida falsch und spricht mit den falschen Leuten?
Wie bist du dazu gekommen, die Erklärung 2018 als Erstunterzeichner zu unterschreiben, in der gefordert wird, die »rechtsstaatliche Ordnung« wiederherzustellen, die durch die »illegale Masseneinwanderung« verletzt wurde?
Ulrich Fröschle: Vera Lengsfeld hat unter anderem mir die beiden Sätze zugeschickt. Die fand ich absolut richtig und monumental einfach, ganz klar und eindeutig, auch was die Solidarisierung mit friedlichen Protesten betrifft. Und da hab ich gesagt: »Na klar, da unterschreibe ich. Da gebe ich meinen Namen als Erstunterzeichner gern her.«
Du kennst sie also persönlich?
Ulrich Fröschle: Ja, ich kenne sie aus dem Gespräch und verfolge seit längerem, was sie schreibt und macht. Eine ganz tolle Frau. Was sie durchgemacht hat und was sie noch immer auf sich nimmt, das nötigt mir einfach nur größten Respekt ab. Sie ist eine echte Dissidentin im besten Sinne – eine solche Haltung hängt man nicht an den Nagel, wenn das System wechselt, sondern man bleibt wachsam und kritisch aus Erfahrung. Das ist im übrigen grundsätzlich der Wert der DDR für unsere heutige BRD – dass man wachsam bleibt, ob sich die gelebte Normalität unter der Hand nicht verändert zu einer monströsen Normalität, auch wenn wir meinen, wir hätten’s als Deutsche jetzt ja endlich herrlich weit gebracht in unserer so demokratisch-toleranten BRD.
Die Erklärung ist ganz bewusst sehr allgemein gehalten. Was verstehst du unter »illegaler Masseneinwanderung«? Und welche »rechtsstaatliche Ordnung« muss wieder hergestellt werden? Ich persönlich halte die Formulierung für recht schwammig. Ich kann mir darunter nicht sehr viel vorstellen oder eben zu viel ... ?
Ulrich Fröschle: Gemeint ist genau das, was da steht. Rechtsstaatlichkeit muss wieder hergestellt werden, die ist partiell nicht mehr gegeben. Die unkontrollierte Masseneinwanderung muss beendet werden, weil sonst unser Staatswesen in absehbarer Zeit kollabiert. Es herrscht eine rechtsstaatswidrige fundamentale Ungleichbehandlung, wenn ich mich bei Verkehrskontrollen als Staatsbürger mit einem Personaldokument ausweisen muss, bei selbst geringfügigen Ordnungswidrigkeiten Ordnungsgelder bezahlen darf oder bestraft werde, und gleichzeitig wird an den Grenzen keine Identitätsfeststellung unternommen und faktischer Rechtsbruch nicht sanktioniert. Auf diese Weise sind islamische Terroristen in ihr Einsatzgebiet nach Deutschland und via Deutschland nach Frankreich gekommen – mit der bekannten Folge zahlreicher Terroropfer.
Die Erosion des Rechtsstaates in Deutschland hat meiner Auffassung nach aber schon vor dem eklatanten und von Frau Merkel nachweislich selbst eskalierten Ausnahmezustand des Jahres 2015 eingesetzt. Für mich war der Casus mit den Griechenlandkrediten, der sogenannten Rettungspolitik, gegeben, wo in einer Art und Weise Entscheidungen durchgewunken wurden, die mich eher an einen Maßnahmenstaat denn einen Rechtsstaat erinnert haben. In diesem Zusammenhang ist immerhin wenigstens noch ein Bundespräsident zurückgetreten.Das Problem, das sich bei uns in der BRD auftut, besteht in einer demonstrativen Legalität der Verfahren, während die Legitimität dieses staatlichen Handelns offensichtlich zerfällt. Und das trifft den Kern unseres Gemeinwesens. Die Geschichte mit der ominösen Griechenlandrettung war für mich persönlich ein wichtiger Punkt: Ich habe damals dem Bundestagsabgeordneten meines Wahlkreises geschrieben und ihn mit Gründen aufgefordert, gegen diese Kredite zu stimmen und sich auch entsprechend öffentlich, also im Bundestag, zu erklären. Das ganze habe ich zweimal getan und nicht einmal eine Antwort bekommen – alles ist im übrigen so gekommen, wie es die Kritiker dieser aktionistischen politischen Schnellschüsse prognostiziert hatten. Der Abgeordnete hat sich in den Abstimmungen selbstverständlich der Disziplin seiner Fraktion, nicht der seines Gewissens und seiner Kritik gebeugt. Die Erosion der Legitimität nahm für mich genau dort damals rasant an Fahrt auf, angesichts der gesamten deutschen Politik, die die EU betrifft. Die Masseneinwanderung seit 2015 hat das dann weiter eskaliert – die Fakten liegen hier doch auch klar auf der Hand. Der Fall des Irakers, der kürzlich die jüdische Deutsche getötet hat, ist doch von einer absurden Deutlichkeit – bei seiner Einreise ist er offenbar nicht zureichend kontrolliert worden; bei der Flucht aus Deutschland in sein Heimatland, in den Irak zurück, ist er dort aber an der Grenze offenbar richtig kontrolliert und sogleich festgenommen worden. Das heißt, im Irak funktioniert das Grenzregime, in Deutschland nicht. Gleichzeitig schicken wir Truppen in den Irak, um dort Rechtsstaatlichkeit herzustellen, sind aber nicht in der Lage, diese im eigenen Land zu gewährleisten.Eine weitere Sache ist, dass es unterschiedliche Rechtsprechungsauffassungen zu geben scheint, die hier um sich greifen. Nehmen wir das Beispiel des Totschlägers von Köln, der jüngst auf Bewährung frei gelassen wurde, und vergleichen das mit dem Durchgreifen des Staates in Sachen Rundfunkgebühren, die sich im Newspeak u.a. Demokratieabgabe nannte. Das sind selbstverständlich populistische Argumente, wie der Akademiker sagt – aber dass diese Erscheinungen als populistisch adressiert werden, verweist doch vor allem auf darauf: dass das Vertrauen in den Rechtsstaat bei sehr vielen – zu vielen – Leuten, eben beim Populus, dem Volk, geschwunden ist. Und wenn die Legitimität eines Staates erodiert, wenn das Vertrauen der Leute in die Rechtssicherheit des Alltags schwindet, wenn das Gefühl wächst, im Falschen zu leben, dann sind erfahrungsgemäß die Tage des betreffenden Staates gezählt – und daran kann uns eigentlich allen nichts liegen, denn wir leben hier nach wie vor in vergleichsweise paradiesisch-sicheren Zuständen.
In der Lesereihe »Lesetrieb – Lesekreis für lebendige Literatur an der TU Dresden«, die du zusammen mit Studenten organisiert hast, bist du eine Kooperation mit dem Kulturhaus Loschwitz eingegangen. Nachdem Susanne Dagen die Charta 2017 aufgesetzt hat, sind Studenten zu dir gekommen und wollten die Nähe zum Kulturhaus meiden. Wie wertest du diese Distanzierung?
Ulrich Fröschle: Wenn ich das richtig erinnere, hat mich deswegen eine ehemalige Studentin angesprochen und dies auch an die Studenten des damals aktuellen Lektürezirkels herangetragen. Ich glaube aber nicht, dass das mit der Charta 2017 zu tun hatte – war das nicht schon vorher? Ich habe daraufhin mit den Studenten jedenfalls diskutiert und ihnen dargelegt, dass uns das Kulturhaus Loschwitz bereits seit über zehn Jahren uneigennützig als Lektürezirkel unterstützt (www.lesetrieb.wordpress.com). Michael Bormann und Susanne Dagen haben uns immer äußerst großzügig den Raum und die Logistik zur Verfügung gestellt, und da kann man doch eigentlich erwarten, dass die Leute, wenn sie denn schon eine solche Entscheidung gegen die erneute Zusammenarbeit fällen wollen, sich wenigstens vorher einmal mit Susanne Dagen und Michael Bormann unterhalten, um sich selbst ein Bild zu verschaffen – et audiatur altera pars. Dies hatte aber keiner gemacht. Und da habe ich gesagt: »Das mache ich nicht mit«. Das wäre menschlich unter aller Kanone. Ich habe im übrigen selbst meine Erfahrungen mit Denunziationen im beruflichen Umfeld sammeln dürfen und bin von daher sensibilisiert, wie man so schön sagt. Wir haben dann die Veranstaltung mit dem Leipziger Autor Clemens Meyer wie immer im Kulturhaus Loschwitz abgehalten, mit großem Publikumsandrang übrigens. Die Studenten wurden meiner Ansicht nach hier zu einer sogenannten Intervention veranlasst, haben aber intellektuell angemessen und charakterlich sauber reagiert, indem sie dies zur Diskussion stellten und sich dann teilweise auch mit Susanne Dagens Stellungnahmen befassten, um sich ihre eigene Meinung dazu zu bilden. Was die Charta 2017 betrifft, habe ich diese auch unterschrieben, allerdings nicht als Erstunterzeichner, denn ich hätte gern noch am ersten Entwurf mit herumgebastelt, und das ging mir dann zu schnell.
Was hat dich dann aber letztlich doch daran überzeugt?
Ulrich Fröschle: Genau das gleiche, was ich im Hinblick auf Patzelts Erfahrungen gesagt habe: Autos anzünden, den Bücherstand des Antaios-Verlags auf der Frankfurter Buchmesse demolieren, oder den Stand und die Auslagen der Zeitschrift »Tumult« ebendort zu beschädigen, Gewalt gegen weltanschauliche Gegner, das geht doch nicht, zumal nicht unter all den zivilisierten Leuten auf der Buchmesse – sollte man meinen. Wenn dann noch dazukommt, dass in fast allen Presserzeugnissen zu diesen Buchmessevorfällen das Bild einer gegen Kubitschek pöbelnden Dumpfbacke die Runde macht und diese als Rechtsradikaler ausgewiesen wird, kann es doch nicht schwer für einen Intellektuellen sein, gegen solche Auswüchse Stellung zu beziehen, oder? Dagegen – wie auch gegen das skandalöse Verhalten der etablierten Führungsfiguren auf dieser Buchmesse – muss man doch protestieren, egal ob nun Linke oder Rechte oder die Zeugen Jehovas Objekt solcher Einschüchterungs- und Ausgrenzungsversuche sind. Das geht einfach nicht, das ist auch eine Frage des Glaubwürdigkeit unserer sonst so hochgehaltenen Werte, und da hatte die Susanne Dagen vollkommen recht: Wenn wir jetzt nicht einschreiten, wie lange wollen wir denn warten und worauf genau, bis wir es dann für angemessen halten, unseren Einspruch einzulegen? Auch die Wahl des Titels – Charta 2017 – trage ich voll mit; wir brauchen nicht auf noch dürftigere Zeiten, gar einen neuen Sozialismus zu warten, um an Havel als Verteidiger von persönlichen und politischen Freiheiten anknüpfen zu dürfen. Man darf Anfängen wehren, auch wenn diese aus einer vermeintlich richtigen Richtung kommen.
Prof. Dr. Ulrich Fröschle lehrt am Institut für Germanistik der TU Dresden. Er diente sechs Jahre als Zeitsoldat bei der Bundeswehr und absolvierte dort eine Ausbildung zum Truppenoffizier. In dieser Zeit entdeckte er sein Interesse für die Brüder Friedrich Georg und Ernst Jünger. Er arbeitete zunächst als Unternehmensberater, später studierte er Germanistik und Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der TU Dresden und dissertierte zu dem Thema »Friedrich Georg Jünger und der radikale Geist. Eine Fallstudie zum literarischen Radikalismus der Zwischenkriegszeit« (Thelem, Dresden 2008). Zur Zeit arbeitet er an dem Buch »Die Fremden und das Andere im Science-Fiction-Film«.