■ Alle guten Geschichten sind bereits erzählt, doch niemals auserzählt. Die «Odyssee» gehört zu den meistbearbeiteten Werken in der Kulturgeschichte und wurde seit der Renaissance immer wieder neu übersetzt und bearbeitet. Für das Dresdner Staatsschauspiel hat Roland Schimmelpfennig die »Odyssee« neu geschrieben, auf der Bühne umgesetzt wird sie von Tilmann Köhler. Schimmelpfennig gilt als einer der produktivsten Dramatiker der deutschen Theaterszene. Seine Stücke leben von von der »Kargheit der Mittel«, schrieb »Die Zeit«: Zeitsprünge, Ortswechsel und Identitätmetamorphosen – eine Anforderung an Regie, Bühnenbildner und Schauspieler, mit dieser Offenheit umzugehen. DRESDNER-Autorin Annett Groh sprach mit Regisseur Tilmann Köhler über das neue Stück.
Die »Odyssee« hat über die letzten Jahrtausende immer wieder neue Ausdeutungen gefunden. Wo setzt das neue Stück an?
Tilmann Köhler: Roland Schimmelpfennig geht von dem mythologischen Stoff aus. Seine großen Themen sind Aufbruch und Ankommen.Wie bei Homer haben wir auch zu Anfang den Aufbruch aus dem Krieg. Dann sehen wir Penelope auf Ithaka, die seit zehn Jahrenauf Odysseus wartet und sich fragt: Warum kehrt dieser Mann nicht heim, obwohl der Krieg längst vorbei ist. Sie beginnt eine Affäre mit einem Lehrer, und dieser Lehrer ist es, der für sie ihr immer wieder Geschichten erfindet, warum ihr Mann Odysseus nicht aus dem Krieg zurückkehren kann. Die Erzählungen orientieren sich an den von Homer beschriebenen Stationen, jedoch bei Schimmelpfennig untersucht aus einer heutigen Welt und aus aktuellen gesellschaftlichen Diskursen.
Auf der Bühne wird also eher erzählt als gehandelt?
Tilmann Köhler: Die »Odyssee« ist immer eine erzählte Geschichte gewesen, und auch bei Homer gewinnt der Text seine Spannung aus dem Erzählen. Die Irrfahrt erlebt man bei Homer auch nur indirekt, indem man den Erzählungen von Odysseus folgt. Bei Schimmelpfennig wird das Erzählen zum Grundmotiv für das gesamte Stück. Es wird erzählt von Penelope, es wird erzählt von Odysseus – aber die Schauspieler werden nicht zu diesen Figuren, sondern bleiben Erzähler. Unsere Schauspieler sind im Alter sehr unterschiedlich und schauen aus ganz verschiedenen Generationen und Perspektiven auf den Mythos und seine Figuren. Wie ändert die Zeit den Menschen? Wer kehrt da nach zwanzig Jahren heim? Gibt es dann überhaupt noch ein »Zurückkommen«? Die acht Schauspieler erzählen miteinander, denken gemeinsam über den Mythos nach und erfinden ihn gemeinsam neu.
Wie wird das im Bühnenbild umgesetzt?
Tilmann Köhler: Der Text verlangt nicht sofort nach großen Bildern. Das Erzählen ist ein Akt des Miteinanders, des gemeinsamen Suchen und Erfindens. Es war uns wichtig, dass es einen konzentrierten Raum gibt, innerhalb dessen alles passiert. Karoly Risz hat einen Raum entworfen, der eine große Nähe zum Zuschauer möglich macht – auch, um gemeinsam herauszufinden, was dieser 2.000 Jahre alte Stoff für uns heute noch in Bewegung bringen kann.
Wie hat Schimmelpfennig die aktuellen Punkte im Text herausgearbeitet?
Tilmann Köhler: Schimmelpfennig wählt Motive aus dem Originaltext und kombiniert sie mit aktuellen Bezügen. Dies zeigt sich unter anderem anhand der einzelnen Inseln, die Odysseus auf seiner Reise besucht. Jede Insel ist eine eigene Welt und hat ein eigenes Thema. Wenn man so will, ist jede Insel ein eigener, ein aktueller Diskurs. Es gibt zum Beispiel den Palast der Winde des Äolus. Das ist ein geschützter Ort, an dem es windstill ist. Gleichzeitig strömen von ihm die Winde in alle Welt aus und kehren mit Informationen zurück. Schimmelpfennig skizziert die eingemauerte luxuriöse, westliche Welt, in der wir hier sitzen – und außerhalb brennt es. Oder nehmen wir die Begegnung mit dem Zyklopen. Hier spielen die Auseinandersetzungen der letzten Jahre mit hinein: das Ankommen von Geflüchteten, der Umgang der Bevölkerung damit.
Die Deutschen als Zyklopen?
Tilmann Köhler: Schimmelpfennig spielt mit diesen Motiven, aber es ist nie eindeutig. Bei ihm erinnert die Höhle des Zyklopen an eine Zweiraumwohnung im Wohnblock, wie an ein Einfamilienhaus. Und ja, Wir erleben einen Zyklopen, der an einen besorgten Bürger erinnert. Er hat Angst, dass dass ihm etwas weggenommen wird und rechtfertigt so seine Gewalttätigkeit.
Das Stück spielt immer mit Assoziationen aus unterschiedlichen Zeiten. So beginnt Roland Schimmelpfennig mit einem Kriegsbild: Der Krieg um Troja ist der Ausgangspunkt für die ganze Irrfahrt. In Dresden schafft dieses Bild sofort auch die Assoziation zum 13. Februar und auch die Frage wie stark der Krieg diese Stadtgesellschaft geprägt hat und immer noch prägt. Und wir haben natürlich auch all die aktuellen Kriegssituationen vor Augen.
Wer ist Odysseus?
Tilmann Köhler: Odysseus wird bei Homer immer mit verschiedenen Attributen in Verbindung gebracht, zum Beispiel als der Städtezerstörer oder der Listenreiche. Bei Schimmelpfennig tritt der Listenreiche in den Hintergrund. Hier ist er der Städtezerstörer, aber auch ein zerstörte Persönlichkeit. Und er ist auch ein Suchender: nach der Heimat, nach seinem Zuhause, nach Aufbruch zum einen und nach Ankommen zum anderen. Er ist ein Getriebener, ein Fliehender, aber auch ein Entdecker. Er ist schwer zu charakterisieren, denn durch die Erzählweise werden ganz verschiedene Facetten der Figur herausgearbeitet – eigentlich ist er die Projektionsfläche für die Erfindungen der Anderen.
Kommt Odysseus an?
Tilmann Köhler: Ja, er kommt nach Ithaka und tötet alle Männer, die er verdächtigt, mit seiner Frau geschlafen zu haben. Er kommt zurück, aber er kommt nicht an.