■ Der Schauspieler, Musiker und Schriftsteller Ulrich Tukur ist kein Mann ohne Marotten, aber er ist auch ein sagenhaft neugieriger, eloquenter und inspirierender Mensch. Steffen Rüth unterhielt sich für DRESDNER Kulturmagazin mit dem 66-Jährigen über die Vergangenheit und seine aktuellen Pläne.
Im Programm »Paganini Intimo« widmen Sie sich dem Wirken eines Geigers von vor 200 Jahren, mit den Rhythmus Boys präsentieren Sie Lieder aus den 20er, 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in Ihrem Roman »Der Ursprung der Welt« treffen Sie Ihr Alter Ego, das vor hundert Jahren lebte. Sehnen Sie sich nach früher?
Ulrich Tukur: Eigentlich waren die Zeiten immer furchtbar. Beziehungsweise, die Menschen haben, egal, wann sie lebten, ihre eigene Zeit immer als besonders schrecklich empfunden. Wenn ich hundert Jahre alte Lieder singe oder mich ins Jahr 1815 begebe, dann baue ich mir eine Traumwelt auf, in der ich in meiner Phantasie herumlaufe. Was ich habe, das ist die Literatur und die Musik aus dieser Zeit. Aber das Lebensgefühl, das kann ich nicht haben. Also fülle ich meine Reise durch die dekorierten Räume der Vergangenheit mit meinem Erfahrungsschatz von heute. Ich erschaffe meine eigene Welt, und die ist schön.
Durch welche Epoche würden Sie denn gerne einmal wandeln?
Ulrich Tukur: Ich finde das Hochmittelalter spannend. Das Mittelalter war bei weitem nicht so düster, wie wir es uns heute vorstellen. Im 12. Jahrhundert zum Beispiel lebten die Menschen in einer Warmzeit, die Ernten waren reich, es war die Zeit der Troubadoure und Minnesänger. Auch die Ära nach Napoleon, wo sich die deutsche Klassik der Romantik die Hand reichte, und wo Europa noch unzerstört war, muss zauberhaft gewesen sein. Schließlich die Zeit von 1919 bis 1932. Damals gab es einen extremen Innovationsschub. Die Energie und Lebensfreude waren unglaublich, die Feste, die gefeiert wurden, rauschend. Und doch war es ein Tanz auf dem Vulkan, was damals natürlich viele ahnten.
Das Titelstück Ihres aktuellen Programms mit den Rhythmus Boys heißt »Es leuchten die Sterne« und entstand 1938 ... ?
Ulrich Tukur: Ja, man tanzte noch ekstatisch, und wenig später ging die Welt unter. Die Mode war nie so grandios wie im Sommer 1939, die Schnitte waren elegant, die Menschen sahen großartig aus. Und in diesem Moment fängt die halbe Welt an zu brennen. Hier zeigt sich die ganze Widersprüchlichkeit des Menschen. Wir können die großartigsten Dinge herstellen, und wir können jederzeit alles kaputtmachen.
Sie sagen, Sie bauen sich als Künstler Ihre eigene Welt. Hat Ihnen die Wirklichkeit schon als Kind nicht gefallen?
Ulrich Tukur: Ich habe mich immer an der Wirklichkeit gerieben. Das ist mein Lebensthema. Aus dieser Reibung entstand und entsteht Energie, die mich dahintreibt, dieses unerhörte Erlebnis Leben in irgendeine künstlerische Form zu bringen.
Wollten Sie immer Schauspieler werden?
Ulrich Tukur: Nein, ich hatte das lange nicht auf dem Schirm. Ich komme aus einer Familie schwäbischer Romantiker, ich wuchs mit den Büchern meiner Eltern und Großeltern auf. Es gab sehr viele Gedichte, sehr viele Erzählungen bei uns zu Hause, ich liebte die Ritter- und die Heldensagen. An die Welt der 60er und 70er Jahre, in der ich aufwuchs, konnte ich nicht andocken. Das war mir alles unheimlich, und ich war ein Außenseiter in meiner Klasse. Heute würde man sagen, ich bin gemobbt worden. Ich zog mich anders an, hatte keine langen Haare und trug keine Bluejeans.
Was haben Sie denn gehört?
Ulrich Tukur: Ich lebte zu der Zeit im Niedersächsischen in der Nähe von Hannover und hatte einen Onkel, einen emeritierten Mathematikprofessor. Der kannte und liebte die ganzen Tanzorchester und hat mir nächtelang seine Schellackplatten vorgespielt. Das war richtig schmissige Musik. Als nächstes entdeckte ich den Jazz. Seither bin ich aus dieser Welt nicht mehr herausgekommen.
Sind die Rhythmus Boys sozusagen eine Spätfolge Ihres Onkels?
Ulrich Tukur: Ich hörte als 12-Jähriger schon diese Musik, die sonst kein Mensch in meinem Alter hörte. Ich fand das Lebensgefühl toll, die Texte pfiffig. Das war völlig anders als das, was die anderen hörten. Und ich wollte sowieso nie sein wie alle anderen.
Das ist Ihnen gelungen ... ?
Ulrich Tukur (lacht): Ja, schon.
Folgt Ihr für Ende Januar geplantes Album und das bereits laufende Live-Programm eigentlich einem bestimmten Konzept? Gleich mehrere der Lieder handeln ja vom Mond … ?
Ulrich Tukur: Der Mond lässt sich halt gut ansingen (lacht). Nein, wir haben einfach Lieder zusammengestellt, die wir gut singen und spielen können. Wir sind ja keine Profimusiker, sondern gehobene Dilettanten. Und ich wollte es ein wenig internationaler halten und singe neben Deutsch und Englisch auch Französisch und Italienisch.