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Ken Loach gilt schon seit Jahrzehnten als der Filmemacher für die Arbeiterklasse im Vereinigten Königreich. Seine Themen: Einfache Menschen, deren Leben durch gesellschaftliche Umbrüche erschüttert werden. Auch »Sorry We Missed You«, der neue Film des mehrfachen Cannes-Gewinners, geht intensiv auf die Veränderungen im britischen Arbeitsmarkt ein. DRESDNER-Autor Martin Schwickert sprach mit ihm über den modernen Niedriglohnsektor in Zeiten des Brexit und die Auswirkungen auf das soziale Gefüge.
Mr. Loach, Ihr neuer Film erzählt von dem Paketzusteller Ricky und der Altenpflegerin Abbie, die in ungesicherten Arbeitsverhältnissen um ihre ökonomische und familiäre Existenz kämpfen. Wie weit verbreitet sind diese Art von Jobs heute in Großbritannien?
Ken Loach: Mittlerweile sind Millionen Menschen davon betroffen. Viele davon werden, wie der Paketzusteller Ricky, als Scheinselbstständige ohne irgendwelche Sozialleistungen unter Vertrag genommen. Andere, wie die Altenpflegerin Abbie, haben Arbeitsverträge ohne festgeschriebene Stundenzahl und mit einem sehr geringen Lohn. In den letzten zehn Jahren sind von den Stellen, die neu eingerichtet wurden, zwei Drittel in solch prekären Arbeitsverhältnissen entstanden. Tendenz steigend.
Welche Auswirkungen hat diese Form von Arbeit im Niedriglohnsektor auf das persönliche und familiäre Leben?
Ken Loach: In diesen Arbeitsverhältnissen muss man viele Überstunden machen, um die knallharten Vertragsbedingungen zu erfüllen und finanziell über die Runden zu kommen. Das ist eine sehr perfide Form der Selbstausbeutung. Da steht kein Vorarbeiter mehr und treibt die Leute an. Das geht ganz von selbst. Viele von den Paketzustellern arbeiten 12 bis 14 Stunden am Tag und sehen ihre Familie kaum noch. Durch die ständige Überarbeitung werden ganz normale Familienkonflikte enorm verschärft, weil den Beteiligten zum Feierabend die Kraft und der lange Atem für eine produktive Auseinandersetzung fehlt. Wenn beide Elternteile in solch prekären Arbeitsverhältnissen sind, wirkt sich das sehr destruktiv auf das Familienleben aus.
»Dem Kunden ist es egal« sagt der Depot-Leiter zu Ricky. Ist diese Gleichgültigkeit eine Konsequenz des »Click & Buy« der Digitalgesellschaft?
Ken Loach: Früher ist man in einen Laden gegangen, hat sich mit den Besitzern unterhalten und kannte deren Lebensumstände. Von diesem alltäglichen Netz direkter, sozialer Beziehungen ist mit der digitalen Ökonomie viel verloren gegangen. Vieles ist anonymer geworden. Dabei wird immer behauptet, die Technologie sei neutral. Aber man muss sehen, wer die Technologie kontrolliert und wem sie nutzt. Und in den meisten Fällen wird sie dazu genutzt, Profit für die Unternehmen zu generieren.
Als Ricky seinen Job als selbstständiger Paketzusteller antritt, zieht er voller Elan wie ein Krieger ins Feld … ?
Ken Loach: Am Anfang denkt er, er ist ein Krieger der Straße, der tapfer um das finanzielle Überleben seiner Familie kämpft. Aber dann wird er eines Besseren belehrt und muss feststellen, dass er nur ausgebeuteter Arbeiter auf dem sogenannten »freien« Markt ist.
Seine Frau Abbey pflegt ihre Klienten so, wie sie ihre eigene Mutter pflegen würde. Was macht das Pflegesystem mit Menschen, die ihre Arbeit mit einem solchen Anspruch angehen?
Ken Loach: In der Vorbereitung zu diesem Film haben wir viele Altenpflegerinnen getroffen, die ihre Arbeit mit einem großen Herzen machen und deshalb umso mehr ausgebeutet werden. Sie gehen eine Verbindung mit den Menschen ein, um die sie sich kümmern, aber sie werden durch die enge Taktung in eine Situation gebracht, in der sie keine Zeit mehr haben, sich mit den Patienten zu unterhalten. Dabei ist Kommunikation das Wichtigste, was ein alter, einsamer Mensch braucht.
Was bedeutet der Brexit aus der Sicht eines Arbeitnehmers im Niedriglohnsektor?
Ken Loach: Die ganze Brexit-Diskussion ist im Grunde ein Streit zwischen zwei Lagern im rechten Spektrum. »Stay« ging es um den Anteil am europäischen Markt. Dafür wären sie bereit gewesen, die spärlichen EU-Vorschriften zum Schutz von Arbeitnehmern zu akzeptieren. »Leave« glaubt, dass sie die Menschen besser außerhalb der EU ausbeuten kann. Sie wollen wie einst Thatcher ein Wirtschaftssystem, das auf Niedriglöhnen und prekären Jobs aufbaut, geringe Steuern für Unternehmen und eine noch stärkere Deregulierung des Marktes. Doch dass die Arbeitnehmer so wieder die Kontrolle bekommen, ist nur eine Illusion. Boris Johnson ist genauso wie Donald Trump ganz offensichtlich ein Lügner und Betrüger. Dennoch ist es dem rechten Populismus in Großbritannien und anderswo gelungen, die Wut der Menschen einzufangen und sie für ihre eigenen Zwecke zu benutzen.
»Sorry We Missed You« ist ab 30. Januar im Programmkino Ost, Kino in der Fabrik und in der Schauburg zu sehen; Großbritannien 2019, Regie: Ken Loach, mit: Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone u.a. Zum Trailer: http://youtu.be/QC3JNB64cRg