■ Letzten November wurde Marcel Beyer von der Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet. Er beherrsche »das epische Panorama ebenso […] wie die lyrische Mikroskopie und den zeitdiagnostischen Essay«. Seit seinem letzten Roman »Kaltenburg«, der in gewissem Sinne auch ein Dresden-Portrait zwischen 1945 und der Nachwendezeit ist, hat er Gedichte, Erzählungen, Vorlesungen und Opern-Libretti veröffentlicht – über einen neuen Roman hörte man bislang jedoch nichts. Die DRESDNER-Autorin Annett Groh im Gespräch mit dem Schriftsteller.
Ende letzten Jahres ist das Wort »postfaktisch« zum Wort des Jahres 2016 gekürt worden. Was sagt der Begriff Ihnen als Schriftsteller?
Marcel Beyer: Das ist ein heikles Thema (lacht). Die Vermischung von Fakten und Nichtfakten, vom Imaginären und Wirklichen ist ja das, was ich als Schriftsteller mache. Ich liebe es sehr, in meinen Texten ein Detail als Ausgangspunkt zu nehmen, welches sich in der Wirklichkeit verorten lässt, um von dort ganz leichte Verschiebungen in eine imaginäre Welt vorzunehmen. Das Interessante ist, die Schraube nur ganz leicht weiterzudrehen, und plötzlich gerät man in eine völlig irrsinnige, phantasierte Welt hinein. Das allerdings scheint sich gerade fast zu einer politischen Waffe zu entwickeln.
Der Begriff mag neu sein, aber das Phänomen ist es doch nicht. Gab es das nicht schon immer?
Marcel Beyer: Dass der Begriff des Postfaktischen zum »Wort des Jahres« gekürt wurde, erweckt den Eindruck der Vergangenheitsblindheit. Als hätten wir uns alle bis vorgestern immer nur auf Fakten verlassen und sie auch alle selbst nachgeprüft. In den letzten 20 Jahren lag eine große Aufmerksamkeit auf dem Finanzbereich. Dort basiert alles auf Gerüchten, auf Versprechen und Wetten auf die Zukunft. Alles findet in einem Raum statt, dem nur bestimmte Stimmungen und Erwartungen zugrundeliegen, jedoch nichts Faktisches. Dieses Konstrukt droht regelmäßig zusammenzubrechen, sodass aus der faktischen Welt Geld nachgeschoben werden muss.
Aber man muss sehen, dass es zwei gegenläufige Tendenzen gibt: Zum einen gewinnen Nicht-Fakten immer mehr Raum, zum anderen werden jedoch auch die realen Verhältnisse hinter dem schönen Schein aufgedeckt. Zum Beispiel die Machenschaften innerhalb der großen Sportorganisationen oder die enorme Aufmerksamkeit, die Whistleblowern wie Edward Snowden zukommt.
Es scheint, dass den Emotionen im öffentlichen Raum – vor allem im Internet – mehr Platz zukommt als dem rationalen Denken!?
Marcel Beyer: Ich habe in den letzten Jahren viel zum Thema »Tränen« geforscht, und tatsächlich ist dieser Trend vor allem in der Wirtschaft sehr stark. In Managerhandbüchern wird dazu geraten, hin und wieder mal ein Tränchen fließen zu lassen, um nicht »eiskalt« zu wirken.
Das ist natürlich auch nur ein »rationaler« Vorschlag … ?
Marcel Beyer: … und zudem zynisch! Aber wenn den Tränen soviel Bedeutung zukommt, dann wird die Macht der Sprache anscheinend als nicht mehr sehr hoch eingeschätzt.
Und welcher Richtung geben Sie den Vorzug: den Emotionen oder der Vernunft?
Marcel Beyer: Beim Schreiben kommt für mich natürlich beides zusammen. Irgendein emotionaler Auslöser für das Schreiben ist immer da. Doch das Arbeiten mit Sprache hat unbedingt mit Rationalität zu tun. Mit den Suggestivkräften der Sprache kann ich Bilder entstehen lassen und daraus Folgerungen ziehen – oder auch nur in ein anderes Bild hinüberschwenken, das in Kontrast zu dem vorherigen Bild steht. Oder Leerstellen – die sind enorm wichtig. Manchmal muss man vor dem letzten Satz, der alles zusammenfassen würde, einfach aufhören.
Zudem: Sprache selbst ist manipulativ. Das ist unheimlich, aber diese Kraft liegt in der Sprache selbst. Ich kann mich darüber ausdrücken – und ich kann sie zur Manipulation benutzen. Das ist ein großer Zwiespalt, ein Konflikt, mit dem ich als Schriftsteller umgehen muss. Wenn ich in einem Roman etwas schreibe, das völlig an den Haaren herbeigezogen ist, dann muss auch ich damit leben, dass manche Leser es für real halten.
Werden Sie eigentlich häufig darum gebeten, die Welt zu erklären?
Marcel Beyer: Das hat im Moment sicher mit dem Büchnerpreis zu tun – da kommen Einladungen zu Gesprächsrunden, wo man sich über die Zukunft Deutschlands, Europas und der ganzen Welt Gedanken machen soll.
Vielleicht sind Schriftsteller ja die »neuen Geistlichen«, die das Ganze in den Blick nehmen, wo Politiker oder Wissenschaftler immer nur ihre Teilbereiche sehen?
Marcel Beyer: Ja, das ist sehr nahe an der Aufgabe der Pfarrer. Letztlich ist diese Gleichsetzung aber eine deutsche Besonderheit. Hier wird der Schriftsteller als »Gewissen der Nation« angesehen. In anderen Ländern ist das überhaupt nicht so. Und ich finde das enorm schwierig, denn ich sehe die Welt heute anders, als ich sie vor einem Jahr gesehen habe. Darum wüßte ich gar nicht, wie ich die Welt als etwas Festes beschreiben sollte – wie sie sein sollte, oder wie sie sein wird. Ich kann immer nur an der Zeit entlang zuschauen und zuhören.
In der letzten Zeit umgibt uns eine gewisse Katastrophenstimmung. Meinen Sie, das pendelt sich wieder ein?
Marcel beyer: Ich weiß es nicht. Aber wenn ich zurückschaue, dann weiß ich, dass ich diese Stimmung in kleinen Momenten schon vor ein paar Jahren gespürt habe. Als Beispiel: Meine Frau ist Schweizerin, was man ihr auch anhört. Und seit acht oder neun Jahren ist aus dem Interesse an ihrer Herkunft – für mein Empfinden – eher Abwehr geworden. Da hört man im Ton plötzlich ein Ausrufezeichen mit: Sie sind aber nicht von hier! Ich will damit nicht sagen, dass ich alles vorausgesehen habe. Aber als Stimmung war Pegida schon länger da. Und immer, wenn ich Dresden so anstrengend finde, dass ich es kaum mehr aushalte, sage ich mir, dass ich hier die Stimmungen und Risse schon mitbekommen habe, bevor sie sich im Rest von Deutschland zeigten.
Dresden ist eine sehr vergangenheitszugewandte Stadt. Nun gelten das »Leben in der Vergangenheit«, kombiniert mit Zukunftsangst, als Merkmale einer depressiven Störung. Würden Sie das auf die hiesige Gesellschaft übertragen?
Marcel Beyer: Man kann das sicher parallelisieren. Nach der Wende gab es hier eine große Euphorie, einen Rausch. Damals war halb Europa im Umbruch begriffen, und es eröffneten sich viele neue Perspektiven. Auch für mich: Ich zog einfach von Köln nach Dresden, und das war großartig. Die Mentalitätskonflikte zwischen Ost und West wurden damals beiseitegeschoben, weil man wirtschaftlich auf die Beine kommen wollte. Da wurde nicht viel Zeit darauf verschwendet, über seine Gemütslage nachzudenken. Und doch müssen diese Dinge irgendwann hochkommen. Ende der 90er war ich bei einem Schriftstellertreffen in Litauen. Die Stimmung dort war extrem deprimierend und lähmend. Das war der Postsozialismus – ohne Geld und Westpersonal – und vielleicht kommt diese große Postsowjetdepression nun auch hier an. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung löst sich sowas nicht.
Im Frühjahr erscheint Ihr neues Buch. Es ist kein neuer Roman … ?
Marcel Beyer: Es sind erzählende Essays – etwas, das ich sehr gern mache. Neben meinen Untersuchungen zu den Tränen finden sich da auch Geschichten mit solchen Post-DDR-Momenten, die mir Menschen erzählt haben. Geschichten, wo durch einen äußeren Auslöser, der auch ganz unspezifisch sein kann, ein Leben plötzlich aus den Fugen gerät. Wo das Leben plötzlich eine unerwartete Wendung nimmt – vielleicht durch irgend einen Blödsinn, vielleicht durch irgend etwas völlig Unerklärliches. Irgend etwas Faktisches führt zum völligen emotionalen Entgleisen.
Am 15. Februar um 20 Uhr im Schauspielhaus wird Marcel Beyer auf Einladung des Kölner Schriftstellers Navid Kermani, der sich auf Deutschlandreise befindet, über die Zukunft Europas und unsere Demokratien nachdenken. Im April 2017 erscheint Marcel Beyers neuer Essayband »Das blindgeweinte Jahrhundert«. Mehr zum Autor: www.suhrkamp.de/autoren/marcel_beyer_369.html