■ Der mexikanische Opernstar Rolando Villazón kommt zurück an die Semperoper, und zwar in doppelter Rolle. Im April wird er den »Orfeo« von Claudio Monteverdi singen, doch zuvor inszeniert er ein Meisterwerk der italienischen Romantik: die Belcanto-Oper »La sonnambula« von Vincenzo Bellini. Die Uraufführung fand 1831 in Mailand statt, und die Oper war einer der größten Erfolge des Komponisten. Heldin des Stücks ist die Waise Amina, die nachts schlafwandelt und dadurch in einen Skandal mit ihrem Geliebten Elvino gerät. DRESDNER-Autorin Annett Groh sprach mit Rolando Villazón (Foto: Monika Hoefler) darüber, wie diese Geschichte heutzutage überhaupt erzählt werden kann.
Welche Rolle hat das Unbewusste in der Oper »La sonnambula«?
Rolando Villazón: Das Unbewusste ist ein großes Thema, denn der Somnambulismus war und ist zum Teil noch etwas Mysteriöses. Vor der modernen Psychoanalyse hielten die Menschen das Phänomen für einen Spuk. Insofern hat die Oper auch etwas Aufklärerisches, wenn die Figur des Rodolfo am Schluss sagt, was es mit dem Schlafwandeln überhaupt auf sich hat. – Für unsere Hauptfigur Amina zeigt sich im Schlafwandeln ihre Freiheit. Es ist der Ort, wo sie zu sich selbst findet: zu ihrem Körper, ihren Gedanken, ihren Phantasien. Sie ist aufgewachsen in einer Gesellschaft mit strengen Regeln, wo diese Freiheit unerwünscht ist. In ihrem Kopf ist immer die Stimme der Gesellschaft, die ihr sagt, was sie tun muss und was sie nicht tun darf. Amina versucht, diese Regeln zu befolgen, aber das Unbewusste, in dem sich ihre wahre Natur zeigt, ist stärker.
Die Oper spielt in einem kleinen Bergdorf, das von der Außenwelt abgeschnitten ist. Wie wollen Sie dieses »Innen« und »Außen« auf der Bühne zeigen?
Rolando Villazón: Wir zeigen dieses Dorf als die isolierte Welt einer sektenähnlich strukturierten, patriarchalen Gesellschaft. Solche abgeschlossenen Welten erzeugen eine klaustrophobische Stimmung – vor allem für Menschen, die von außen dazukommen. Diese Gemeinschaften versuchen, unabhängig von der Außenwelt zu leben, aber natürlich schaffen sie es nicht komplett. Da gibt es zum einen die Außenwelt, die hineindrängt – bei uns sind es der Notar und der Graf Rodolfo, der dort zwar aufgewachsen ist, aber lange Jahre »in der Welt« gelebt hat und nun zurückkommt. Es sind aber auch Leute darin, die den Drang nach draußen haben. Auch wenn es vielleicht nur kleine Momente sind, in denen sie diesen »Hunger nach Freiheit« fühlen.
Es gibt drei Frauen im Stück, die alle drei Opfer dieser klaustrophobischen Atmosphäre sind. Teresa, die Pflegemutter von Amina, ist eine unverheiratete Frau und steht als potentielle Rivalin aller Frauen am Rande der Gesellschaft. Die Waise Amina selbst muss kämpfen, um in dieser Gesellschaft akzeptiert zu werden. Und dann gibt es Lisa. Für uns ist sie eine Frau, die auch von außerhalb kommt und sich in diesem Dorf als Geschäftsfrau angesiedelt hat. Sie ist unverheiratet, aber das Dorf akzeptiert das, denn das Geld, das sie mit ihrer Herberge verdient, wird gebraucht.
Auf den ersten Blick scheint Elvino das größte Entwicklungspotential zu haben. Er wird vor eine Entscheidung gestellt und geprüft. Die Frauenfiguren dagegen sind statisch: Amina ist die Reine, Gute und Lisa die Boshafte, Durchtriebene. Wo liegt für Sie das Entwicklungspotential bei den Frauenfiguren?
Rolando Villazón: Ich versuche, diese Eindimensionalität der Figuren zu durchbrechen. Mich interessiert die Spannung, die in jeder Figur liegt. Lisa ist nicht die Böse. Ja, die schlechten Emotionen gewinnen Macht über ihre Handlungen und sie trifft ein paar schlechte Entscheidungen, aber menschlich ist das nachvollziehbar. Wir Menschen haben eben nicht nur eine Seite: Wir können schlechte Sachen tun und trotzdem gute Menschen sein.
Was Elvino angeht: ich finde ihn schrecklich! Er müsste Amina einfach nur glauben, dass sie nicht mit Rodolfo geschlafen hat. Aber er tut es nicht – bis Rodolfo kommt und es ihm bestätigt. Dann erst glaubt er es! Das sind natürlich die Wertvorstellungen, mit denen er aufgewachsen ist und die sich in seinem Handeln zeigen. Darum kann es auch kein Happy End geben, wie Bellini es im Original vorschlägt. Denn dass die beiden heiraten, ist in Wahrheit eine sehr traurige Geschichte für Amina. Wir wissen alle, was nach der Hochzeit passieren wird: Der Mann lässt die Frau den Haushalt führen und die Kinder aufziehen. Elvino ist ein Teil dieser Männergesellschaft und würde es niemals schaffen, sich von diesen Mustern zu lösen. Soviel sei verraten: Es wird ein Happy End geben, aber es wird eines für Amina!
Wo bleibt die ländlich-pastorale Idylle, für die das Stück berühmt ist?
Rolando Villazón: Sie ist auf jeden Fall in der Musik. Und nichts, was auf der Bühne passiert, ist gegen die Musik inszeniert. Es ist sehr schön, gemeinsam mit Evelino Pidò einen Weg zu finden, Bellinis Musik und den Text zusammenzubringen mit der Geschichte, die wir erzählen wollen. Vielleicht liegt die pastorale Idylle in der Innensicht des Dorfes. Einige fühlen sich dort miserabel, doch ich denke, für die meisten ist das Leben in dieser Gemeinschaft sehr schön. Es ist ihre Heimat, sie leben dort. Sie haben ihre eigene Moral und eigene Regeln, die vielleicht nicht mit unseren Vorstellungen vereinbar sind. Aber aus der Perspektive dieser Leute ist es gut, und sie nehmen es nicht als Gefängnis wahr.
»La sonnambula« ist eine Koproduktion mit dem Pariser Théâtre des Champs-Élysées, wo Sie die Inszenierung schon 2021 gezeigt haben. Wieviel übernehmen Sie aus Paris?
Rolando Villazón: Ich inszeniere die Oper eigentlich noch einmal. Wir übernehmen viele Dinge wie das Bühnenbild und die Kostüme, aber ändern auch einiges. Denn ich habe hier ja neue Kollegen mit neuen Ideen, und als Regisseur kann ich mit mit den Energien, die die Künstler mitbringen, arbeiten und vieles weiterentwickeln. Es ist eine Chance, neu über das Stück nachzudenken.