DRESDNER Interviews / O-ton!
»Der Mensch verträgt nicht sehr viel Realität« – Keith Warner im Gespräch zu »The Great Gatsby« an der Semperoper
Keith Warner im Gespräch zu »The Great Gatsby« an der Semperoper
■ »The Roaring Twenties« – ein Rausch, rasant und schillernd ist das Leben des Jay Gatsby. Unbekannt ist der Grund seines Reichtums, offensichtlich dagegen die Sehnsucht nach seiner mittlerweile verheirateten Ex-Affäre Daisy. Der Amerikaner John Harbison komponierte »The Great Gatsby« nach F. Scott Fitzgeralds gleichnamigem Welterfolg über gesellschaftliche Dekadenz und Doppelmoral. Manche halten ihn für den größten Roman Amerikas. »The Great Gatsby« diskutiert nichts weniger als die Frage, was »die moderne Welt« ist, wie Zukunft aussehen wird und Vergangenheit ausgesehen hat. Der Brite Keith Warner hat sich nun für die Semperoper der europäischen Erstaufführung der Opernfassung des großen Sittengemäldes einer Gesellschaft angenommen. Mit DRESDNER-Herausgeberin Jana Betscher sprach er über Swing und Doppelmoral.

Francis Ford Coppola gelang es 1974 für die Verfilmung des Romans von Fitzgerald, dieses sehr breit angelegte Werk auf die Handlungslänge eines Films oder auch einer Oper zu bringen. Orientieren Sie sich bei Ihrer Inszenierung an diesem Drehbuch, oder denken Sie die Handlung gänzlich neu?

Keith Warner: Der Roman von Fitzgerald ist unsere wirkliche »Bibel«. Das Buch ist grausamer als alle Verfilmungen. Es ist erbarmungslos und ohne Gnade. Mit im Mittelpunkt bei der Opernfassung steht aber natürlich auch die Musik. »The Great Gatsby« spielt zwar in der großen Ära des Jazz, aber John Harbison hat eine moderne Musik komponiert, die stark von den 20ern beeinflusst ist.

Moderne Musik, auch unter den Einflüssen der 20er Jahre mit Anklängen an den Jazz, hat auch eine deutsche Tradition. Aber die Sächsische Staatskapelle wird doch nicht anfangen zu swingen, oder?

Keith Warner: Mit Wayne Marshall haben wir einen Dirigenten, der in der Lage ist, sowohl das Orchester als auch die Sänger in einer komplett neuen Weise zu leiten. Er ist einfach eins mit Jazz und Swing. Und jedes große Orchester ist natürlich in der Lage, sich dem jeweiligen Stil der Musik anzupassen. Viele moderne Komponisten haben Jazz-Einflüsse verarbeitet, sogar Strawinsky. Hier ist vielleicht nur das Ausmaß eine Herausforderung. Aber für Herausforderungen leben wir ja.

Die 20er Jahre, das ist eine nervöse, eine flirrende Zeit. Die große Depression zeichnet sich schon ab, der dekadente Tanz auf dem Vulkan. Die Unsicherheit ist in den Personen bereits zu spüren. Was Fitzgerald gezeichnet hat, ist ja auch ein großes amerikanisches Sittengemälde seiner Zeit. Sehen Sie einen aktuellen Bezug? Tanzen wir momentan auch wieder auf einem Vulkan?

Keith Warner: Ich erlebe momentan etwas, dass ich so noch nie erlebt habe. Das ist gefährlich und hässlich. Ich spreche hier nicht allein von Dresden, auch in England gibt es vergleichbare Phänomene: Furcht vor Flüchtlingen! Bei einem Stück wie dem »Gatsby« muss man vorsichtig sein. Dort geht es ja um die benachteiligten Schichten, die eine Revolution planen, und es geht darum, dass wir die Zivilisation schützen müssen.
Wir wissen ja, was dann in den 30er Jahren gekommen ist. Und wir sehen jetzt besorgniserregende Entwicklungen – Was wird kommen? Weder als Mensch noch als Künstler kann ich die unterschwelligen Botschaften eines Stückes ignorieren, die es zeitgemäß machen.

Sie sprechen auch von einem Aufeinandertreffen von Doppelmoral und Idealismus. Wo genau sehen Sie das im Stück?

Keith Warner: In dem Stück geht es auch darum, wie wir als Individuen selbst diese Doppelmoral verkörpern. Wir praktizieren tagtäglich Widersprüche: Wir kaufen 10 Euro-Shirts, die unter sklavenähnlichen Zuständen hergestellt worden sind und entscheiden uns gleichzeitig für Bio-Milch, weil die für unsere Kinder besser ist. Damit schaffen wir permanent entgegengesetzte Realitäten. Und wie bereits T.S. Eliot schrieb, verträgt der Mensch nicht sehr viel Realität. Wenn Sie zu intensiv über das Leben nachdenken, explodiert irgendwann ihr Hirn angesichts der moralischen Verantwortung. Und das ist eben gerade kein historisches Sujet, sondern aktueller denn je.
Vielen Dank für das Gespräch!

»The Great Gatsby«, Oper von John Harbison in der Regie von Keith Warner. Europ. Erstaufführung am 6. Dezember in der Semperoper, weitere Aufführungen: 9., 11., 15., 18., 21. Dezember; mehr zum Stück: www.semperoper.de/spielplan/stuecke/stid/Gatsby/60545.html

« zurück