■ Uwe Kolbe, 1957 in Ost-Berlin geboren, war oft auf Reisen, sowohl im Ausland als auch im geteilten und wiedervereinigten Deutschland. Er selbst findet es befremdlich, dass man ihn oftmals nur mit seiner DDR-Vergangenheit in Verbindung bringt, obwohl er doch den Großteil seiner Werke außerhalb des Arbeiter-und-Bauernstaates schrieb und veröffentlichte. Dennoch räumt er ein, dass ihn diese Zeit nachhaltig geprägt hat. DRESDNER-Autor Stephan Zwerenz hat sich mit ihm getroffen, um über Herkunft, Prägung und die Stadt Dresden zu sprechen, in der er kürzlich auch eine neue Heimat gefunden hat.
Herr Kolbe, ab Mitte der 80er Jahre war es Ihnen trotz Ihrer systemkritischen Haltung möglich ins westliche Ausland zu reisen, ab 1987 bekamen Sie sogar ein Dauervisum für die BRD. 1988 sind Sie schließlich nach Hamburg gezogen. Was waren Ihrer Meinung nach die gravierendsten Unterschiede im Identitätsverständnis zwischen Ost- und Westbürgern?
Uwe Kolbe: Die einfachste Sache ist: Ich stehe in Westberlin in einer Telefonzelle, rufe eine Westberliner Tante an, die Schwester meines Vaters, und ich frage sie: »Wann können wir uns denn mal treffen? Ich bin jetzt hier«. Da sagt sie: »Oh, wie lange bist du denn schon in Berlin?« Da musste ich lachen und sagte: »Liebe Tante, schon mein ganzes Leben.« Das Identitätsverständnis der Westberliner war, dass sie in Berlin lebten. Das Verständnis von Ostberlinern war die Wahrnehmung von Ost und West. So erging es mir dann auch in Westdeutschland. Dort wurde ich begrüßt mit dem selbstverständlichsten Deutschlandbegriff überhaupt. Sie meinten aber immer nur Westdeutschland. Das heißt, sie hatten vergessen, dass es das andere überhaupt gab. Das ging durch alle Gesellschaftsschichten hindurch.
Die Ost-Identität war durch die drei Buchstaben »DDR« belastet. Im Ausland war es für mich immer ein Schreck, als Deutscher angesprochen zu werden. Ich habe dann immer gesagt: »Nee, nee. Ich komme aus der DDR.« Das war natürlich damals ideologisch gefärbt. Ich wollte betonen, dass ich die Spaltung des Landes anerkenne. Das gehörte für mich zu meinem persönlichen Selbstverständnis dazu. Deswegen bin ich so, wie ich bin.
Was hat sich an diesem Identitätsbegriff seit der »Wende« verändert?
Uwe Kolbe: Ich glaube im westdeutschen Selbstverständnis gar nichts. Es sei denn, man ist in den Osten gezogen, was ja auch viele gemacht haben. Insbesondere in Dresden wird mir das ganz massiv gespiegelt. Ich hatte die Umwälzung der 90er Jahre ja nicht miterlebt. Ich war damals fast die ganze Zeit im Westen und dort musste sich der Deutschlandbegriff nicht ändern. Er hat sich auf die neuen Bundesländer nur drübergelegt. Die Blase, also das, was man mit Deutschland meinte, ist sozusagen größer geworden.
Überall auf der Welt begegnet man ja Menschen, die irgendwo herkommen. Die Basis dafür, dass wir uns überhaupt unterhalten können, ist doch, dass wir von Mensch zu Mensch miteinander reden, dass wir geboren wurden, dass wir vielleicht Kinder haben und selber mal Kinder waren, dass wir die und die Filme sehen, die und die Musik hören. Das sind die Dinge, die uns leicht zueinander bringen. Aber das, was mich wirklich interessiert, wenn ich in die Welt gehe, ist doch das Fremde, also das, was ich noch nicht kenne. Das auszublenden, wenn man über Identität oder Heimat spricht, halte ich für falsch und sogar für dumm. Das Fremde ist das Geschenk, das ich entdecke, wenn ich irgendwo anders hingehe und das ändert mich, weil ich dabei an Erfahrung gewinne. Der radikale Weltbürger, der die eigene Identität nicht gelten lässt, weil er sagt, dass alle Menschen gleich sind, ist dabei für mich genauso dumm, wie der radikale Nationalist oder Scheunenbewohner, der sagt: »Bis hierhin und nicht weiter.« Das sind für mich die beiden falschen Reflexionen zum Thema »Heimat und Identität«.
Was bedeutet für sie persönlich »Identität«?
Uwe Kolbe: Ja, da sind wir eigentlich schon mittendrin in einer Begriffsdefinition. Ich bin aber weder Soziologe, noch Sprachforscher. Ich bin noch nicht einmal ein Germanist, sondern einfach jemand, der beruflich mit Sprache umgeht. Wenn die Leute dieses Wort »Identität« benutzen, dann meinen sie meistens ein Gemisch aus Herkunft, Familiärem, Ethnischem … Und sie meinen damit grundsätzlich etwas ganz selbstverständliches. Sie meinen etwas, das sie selber sind, was durch die Umstände aus ihnen wurde.
Warum glauben Sie, weshalb das Thema »Heimat und Identität« wieder so aktuell ist? Haben die Leute vielleicht Angst, ihre Identität zu verlieren?
Uwe Kolbe: Überwältigend unerklärlich ist das. Es hat natürlich eine Geschichte, die durch die Situation 2015 und das »Wir schaffen das« verschärft wurde. Die Diskussion war aber schon lange davor da. In der Europa-Debatte ging es ja schon immer darum. Ich glaube, dass die Debatte notwendig ist. Ich finde nur, dass sie auf einem erbärmlichen Niveau geführt wird: auf dem »Pegida-Niveau« und auf dem »Ihr-Nazis!-Niveau«. Es sind aber ganz offensichtlich Verteilungskämpfe, die dort eigentlich stattfinden. Es wird ja vom Sozialstaat geredet, der in Gefahr ist. Man kann eben nur hoffen, dass die Regierenden, also diejenigen, die im Parlament sitzen, dem Volk ehrlich erklären, wie die Zahlen stehen, was machbar ist und wo die Grenzen liegen. Die Kommunikation zwischen den Vertretern des Volkes und dem Volk selbst ist mehr als dünn. Die Leitmedien tragen daran auf jeden Fall eine Mitschuld. Sie fragen wenig, meinen viel. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass die Debatte, mit all ihren Schattenseiten, auf der Straße ausgetragen wird.
Bereuen Sie, dass sie den Mauerfall nur aus dem Ausland miterlebt haben?
Uwe Kolbe: Ich bereue eine unerhörte Menge in meinem Leben, aber das war einfach nur schade. Ich musste ihn mir leider von Texas aus im Fernseher ansehen.
Sie sind als Schriftsteller viel gereist, sind mehrmals umgezogen und haben mehrere Stellen als Stadtschreiber besetzt. Was bedeutet für Sie Heimat?
Uwe Kolbe: Heimat wurde für mich erst zu etwas selbstverständlichem, als ich nicht mehr da gelebt habe, wo ich herkam. Der Begriff »Heimat« spielte in den ersten 30 Jahren meines Lebens keine Rolle. Erst als ich dann in Hamburg gelebt habe, wurde ich immer wieder gefragt, wo ich herkomme und warum ich denn nicht irgendwo anders bin. Plötzlich trug ich etwas mit mir herum und kam in die Verlegenheit, das zu erläutern. Ich musste erklären, was denn anders an dem ist, wo ich herkomme und was daran wiederum nicht anders ist, als das, was sie kannten. Und so wurde ich plötzlich ein unfreiwilliger DDR-Botschafter. Wenn man nur mit Klischees konfrontiert wird, muss man erst einmal lebensweltliche Alltäglichkeiten erklären, die man sonst gar nicht versteht. Dort leben die Menschen ganz normal, wie auch überall sonst. Sie waschen Wäsche, ziehen Kinder groß, dort wird geliebt, gestorben. Das war mein Zugang zum Heimatbegriff, erklärend und erläuternd. Das ist genauso wie bei der Identität: Erst wenn man von außen darauf schaut, indem man sich zum Beispiel fortbewegt, wird die Heimat wirklich relevant, aber auch kompliziert.
Haben Sie sich infolge dieser Erklärungsversuche auch manchmal fremd gefühlt?
Uwe Kolbe: Nein, das nicht. Das ist auch eher eine persönliche Eigenschaft von mir. Ich bin unerhört anpassungsfähig. Hamburg war allerdings auch ein Sehnsuchtsort für mich. Das hat mit der familien-mythologischen Geschichte zu tun, nämlich damit dass meine Eltern Binnenschiffer auf der Elbe waren. Ich habe also meine ersten Lebensjahre auf diesem Fluss verbracht. Fremd gefühlt hab ich mich in Hamburg nie, ganz im Gegenteil.
Eine Anekdote, die mir noch dazu einfällt: Als ich das erste Mal, im schönen Jahre 1987, vom Flughafen JFK in einem Taxi auf Manhattan zu fuhr, habe ich gedacht, ich komme nach Hause. Heimat sind für mich also auch Hollywood-Filme, die Selbstverständlichkeit der Silhouette von Manhattan. Das war ein Erlebnis und ich dachte, ich kenne das alles. Ich kannte es natürlich überhaupt nicht. Ich war da ja noch nie in meinem Leben. Aber ich fühlte mich wohl. Das war die Summe aus vielleicht hundert Filmen, die ich gesehen hatte und ich sah das plötzlich alles vor mir, dort wo zum Beispiel Kojak erst seine Zigaretten, später dann seine Lollys im Mund hatte. Kunst und Medien sind also ganz offensichtlich auch etwas, das Heimat und Identität schaffen kann.
Nachdem Sie 2017 Stadtschreiber in Dresden waren, sind Sie gleich hier geblieben. Was hat Sie dazu bewogen?
Uwe Kolbe: Ich habe ja 19 Fragen in der Sächsischen Zeitung beantwortet und da hat Karin Großmann so schön in ihrem Vortext geschrieben: »Aus verschiedenen guten Gründen ist er geblieben.« Dem kann ich eigentlich nichts hinzufügen. Ich fühle mich sehr wohl und ich hab wiederum private Gründe. In meinem Leben ist das ein irrer Zufall und sehr unerwartet, und gleichzeitig hab ich eine unerhört lange Geschichte mit Freunden aus Dresden. Ich war von Ende der 70er Jahre an immer öfter hier. Damals hab ich immer gesagt: »Ich lebe in Drei-Stadt«, also Berlin, Leipzig und Dresden. Ich hab auch hier in Dresden das Familienleben von Freunden mitgelebt. Aber ich habe auch kulturelle Gründe gefunden, die mit der Landschaft, mit der Umgebung und vielem mehr zu tun haben. Und die Person, wegen der ich hauptsächlich hier bin, hat ein sehr ausgeprägtes kulturelles Netzwerk. Ich bin also jetzt schon völlig integriert.
Woran arbeiten Sie gerade?
Uwe Kolbe: Ich schreibe immer parallel an mehreren Sachen. Eigentlich müsste ich an einem richtig großen Essay sitzen, für den ich aber gerade noch so viel lese, dass ich noch gar nicht daran schreibe. Dann entstehen natürlich immer auch Gedichte. Es wird dieses Jahr im Frühjahr einen Gedichtband mit dem Namen »Die sichtbaren Dinge« geben, der in dem Leipziger Verlag »Poetenladen« erscheinen wird. Dann hätte ich sogar noch einen weiteren Gedichtband fertig. Und sonst gibt es natürlich auch immer Auftragsarbeiten, Essays, Kolumnen, Reden. Das ist schon ein Großteil der Alltagsarbeit, also diese Arbeiten, die man auch als Broterwerb bezeichnen könnte. Ich bin kein Romancier, den man fragen kann, an welchem großen Werk er gerade sitzt.
Für das Frühjahr 2019 ist ein Gedichtband von Uwe Kolbe »Die sichtbaren Dinge« angekündigt, der im Leipziger Verlag »Poetenladen« erscheinen wird.