Déjà-vu

Der kulturelle Lockdown wäre vermeidbar gewesen – ein Kommentar von Heinz K.

Als ich neulich im Oktober eine Veranstaltung besuchte, da stand die Corona-Ampel noch auf Grün – mit Tendenz zu Gelb. Noch bevor ich das Stadtmuseum betrat, setzte ich (angesichts des gleich am Eingang präsenten Museumspersonals) automatisch den Mund-Nasen-Schutz auf und behielt diesen auch an, bis ich einen Platz gefunden hatte. Es war eine nicht sonderlich gut besuchte Literaturveranstaltung, die Erscheinung einer eben nicht gerade unbedeutenden Lyrik-Anthologie sollte gefeiert werden. Wirklich gefeiert wurde natürlich nicht. Das Museumscafé war aus Hygieneschutzgründen nicht zugänglich, also wurde die Lesung kurzerhand in einen großen Ausstellungsraum verlegt, in dem die überdimensionierte Lüftung unentwegt Störgeräusche produzierte, was der Konzentration auf das Eigentliche abträglich war. Nun steht die Ampel auf Rot. Sogar auf Dunkelrot, wie uns der altersgrüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretzschmann, warnend versicherte.

Lesung mit Abstand

Irgendwie hatte man sich ja schon gewöhnt ans Maske tragen und Abstand halten. Und ans hinsetzen auch bei Stehveranstaltungen. Ein erneuter Lockdown, so wie im März geschehen, wurde vollmundig und fast einhellig von der Politik ausgeschlossen (außer natürlich vom ewig um die Bevölkerungsgesundheit besorgten Gesundheitsexperten der SPD, Karl Lauterbach). Eigentlich.

Und nun ist er da, verharmlosend als Lockdown Light oder Teil-Lockdown bezeichnet. Was bedeutet das für die Kultur? Die Einschränkungen mögen vielleicht gar nicht so drastisch erscheinen, wenn man weder an Kunst noch an Kultur oder gar an Subkultur irgendein Interesse zeigt. Aber mal ehrlich, wer möchte sich zu solch einem kulturlosen Typus zählen? Offensichtlich sind die Repräsentanten der 16 Bundesländer und die Bundesregierung einer Meinung, dass Kultur nicht systemrelevant und daher am ehesten verzichtbar ist.

Anders ist es nicht zu erklären, dass eine ganze Branche, die immerhin 1,5 bis 1,7 Mio. Menschen beschäftigt (die Schätzungen gehen je nach Lesart auseinander) stigmatisiert, seit acht Monaten an der Arbeit gehindert und mit Almosen wie Hartz4 für Soloselbständige oder Krediten abgespeist wird. Zugegeben, die Kultur-Lobby ist bei weitem nicht so einflussreich auf die Politik wie die Auto-, Pharma- und Ärzte-Lobby oder die großen Wirtschaftsverbände, aber immerhin ein nicht zu unterschätzender Bereich, in dem personalintensiv gearbeitet wird, um Menschen Freude zu bereiten und geistige Anregungen zu bieten.

Nicht ganz zufällig ist dies auch der Bereich, der mir am meisten Freude bereitet, weswegen ich mich auch dazu entschlossen habe, meine Berufung darin zu sehen, kulturelles Erleben im lokalen und regionalen Umfeld zu begleiten und zu befördern. Die Geringschätzung, die derzeit Künstlerinnen und Künstlern entgegenschlägt, schlägt auch auf die Kulturvermittler zurück. Auf Medien, Agenturen, Management, technischen Support. Jeder und jede im künstlerischen Bereich Kreative muss sich davon wie vor den Kopf gestoßen fühlen, weder systemrelevant noch irgend relevant zu sein. Sind die Stimmen aus der Kunst- und Kulturszene nicht laut genug, um da ein Umdenken zu bewirken? Leider nein. Die Kunst erneuert sich ja bekanntlich irgendwie von selbst, sie stirbt bestimmt nicht aus wegen eines Virus. Um die großen Institutionen machen sich anscheinend die wenigsten Sorgen. Tenor: die werden schon nicht fallengelassen, so hofft man. Aber was ist mit den vielen anderen? Hat die angeschlagene Kulturwirtschaft nicht auch ein Recht darauf, die Krise zu überleben?

Ich will hier gar nicht aufrechnen, wie sinnlos oder sinnvoll eine Schließung beispielsweise von Museen oder Theatern ist, wenn zugleich unter zumeist schlechteren Hygiene-Bedingungen der Besuch eines Baumarktes, x-beliebigen Ladengeschäfts oder Friseurs möglich ist. Um mal vom Gedränge im öffentlichen Nahverkehr ganz zu schweigen. Ich habe noch keine Politikerin, keinen Politiker gehört, der dafür eine plausible Erklärung parat hätte. Die Kontaktvermeidung, die sich Bundesregierung und Länderchefs jetzt angesichts steigender Fallzahlen auf die Fahne geschrieben haben, ist bei einem Museums- oder Theaterbesuchs unter der peniblen Beachtung behördlich genehmigter Hygiene-Auflagen obligatorisch. Trotzdem müssen Theater und Museen im November schließen. Wer da nach Logik sucht, wird sie nicht finden.

Andererseits sieht sich die Politik außerstande, die beschlossenen Maßnahmen wirksam zu kontrollieren. Auf Dresden heruntergebrochen, spielte sich am sogenannten Assi-Eck in der Neustadt (und punktuell auch am Elbufer) aus infektiöser Sicht über den Sommer hin monatelang Unbeschreibliches ab. Die Behörden schritten allenfalls ein, wenn die Situation alkoholisierter Partygänger zu eskalieren drohte. In einem demokratisch verfassten Rechtsstaat wie der Bundesrepublik muss eigentlich niemand befürchten, dass seine Privatsphäre ohne triftigen Grund ausgespäht und sanktioniert wird. Und genau das erscheint nun in der Politik im Bereich des Möglichen zu sein. Stichwort: Infektionsketten verfolgen. Die Exekutive ist offenbar nicht in der Lage, öffentliche Plätze in deutschen Großstädten zu kontrollieren. Wie sollte sie denn dann in der Lage sein, die privaten Rückzugsräume zu kontrollieren? Also bleibt im Grunde nur der Appell an die Vernunft oder die Ermunterung zum Denunziantentum. Der Appell an die Vernunft erscheint irgendwie auch notwendig. Nicht notwendig sind jedoch die drastischen Einschränkungen des Kulturlebens, die die Bundesregierung und die Repräsentanten der Bundesländer unter Umgehung lästiger Debatten in Bundestag und Länderparlamenten am Mittwoch dieser Woche beschlossen haben.