Empört Euch!

Laut war der Aufschrei in den Feuilletons, als der schmale Band des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann im Vorfrühling diesen Jahres erschien und dem Autor prompt Platz 1 der Sachbuch-Bestsellerliste bescherte. Ausgehend von der These »Der Osten hat keine Zukunft, solange er nur als Herkunft begriffen wird« unterbreitet darin Oschmann (*1967 in Gotha) in einer Mischung aus scharfer Polemik und soziopolitischer Analyse seine persönlich gefärbte Sicht auf die 30 Jahre seit dem Beitritt. Der Westen begreife sich dabei stets als Norm und den Osten nur als Abweichung.

Für den Autor ist vor allem die Sprache entlarvend, was bei seiner Profession nicht weiter verwundert. Und er nennt allerlei Klischees – etwa Ossis seien dumm, faul und undankbar und wählten notorisch stets die falschen Parteien – die sich bis heute hartnäckig zu halten scheinen. Oschmann schlussfolgert daraus, dass der Westen den Osten als negative Projektionsfläche brauche, um sich selbst im besseren Licht darzustellen. Auf einen Nenner gebracht: »rassistisch, rechts, ostdeutsch«. Das ist natürlich überzeichnet, aber wie könnte denn auch ein klug ausgewogener, analytischer Gedanke eines Intellektuellen mit Ostsozialisation vordringen in die Saturiertheit und daher umso entschlossener verteidigte Deutungshoheit westdeutscher Eliten? In den Feuilletons der Qualitätsmedien dominieren jedenfalls Westdeutsche, die identitätspolitische Debatten über postkoloniale Belastungsstörungen oder gendersensible Sprache unter sich ausfechten, und dabei die demokratiegefährdende Repräsentationslücke im Osten nicht wahrnehmen (wollen). Denn es gibt eben auch noch drei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen eine geteilte Wahrnehmung der Wirklichkeit, die sich nicht einfach so im Verständnis westdeutscher Selbstgewissheit auflösen lässt.

Die Realität markieren bei Oschmann nüchterne Kennzahlen. So sind nach einer Studie der Otto Brenner Stiftung 2021 in den Führungsetagen der wichtigen bundesdeutschen Leitmedien, die im Osten übrigens kaum gelesen werden, so gut wie keine Ostdeutschen zu finden. Fast alle ostdeutschen Regionalzeitungen befinden sich im Besitz westdeutscher Medienunternehmen. In den Chefetagen der großen ostdeutschen Regionalzeitungen sieht es ähnlich aus. Selbst der öffentlich-rechtliche Rundfunk und Journalistenschulen bilden kaum Nachwuchs mit ostdeutschem Hintergrund aus. Diese Repräsentationslücke findet sich aber nicht nur in Leitmedien, sondern auch in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder Politik. Über 30 Jahre nach dem Beitritt sind es nur 1,7 Prozent mit Ostsozialisation in Führungspositionen von Wirtschaft, Verwaltung und Rechtswissenschaft – bei einem Bevölkerungsanteil von 19 Prozent, was Oschmann prompt nach Veröffentlichung des Buches dazu brachte, analog zur Frauenquote eine Ost-Quote zu fordern.

Differenziert fragt Stefan Locke in der FAZ, in der noch vor Veröffentlichung des Buches ein Artikel Oschmanns erschien, ob das nun »eine Schmähschrift, eine Tirade, eine Litanei, eine Polemik, ein undifferenzierter Redeschwall?« sei. Stefan Locke (*1974 in Bautzen): »Erstes Gefühl beim Lesen, zumindest für den im Osten sozialisierten Rezensenten: Es hat etwas Reinigendes und, zugegeben, auch Befreiendes. Denn Oschmann fegt den beim Thema Osten bis heute fast ganz westdeutsch dominierten Diskursraum mal so richtig durch und steigert sich in einen Rausch. Zweites Gefühl: Sind wir nicht eigentlich schon viel weiter?« Offensichtlich nicht, denn Locke stellt resümierend fest, dass sich die meisten jungen Deutschen (egal, ob in West oder Ost aufgewachsen) nach der Lektüre fragen werden, worum es hier eigentlich geht. Zunächst gelangweilt von der durch Oschmann wieder aufgewärmten Ost-West-Debatte, äußert Cornelius Pollmer (*1984 in Dresden) in der Süddeutschen Zeitung dann doch Verständnis: »Egal ob Oschmann alle bisherigen Debatten zum Thema kaum mitbekommen oder sie absichtlich ignoriert hat, am Ende hat er in verquerer Weise Recht mit seinem Zorn. Am Ende nämlich ist jedwede Gewöhnung an ungerechte Verhältnisse genauso falsch wie die Hinnahme von Be- und Zuschreibungen wie die der Ossis als nur beigetretener Andersdeutscher.«

Da ist also durch Oschmann neuer Schwung in die Ost-West-Debatte gekommen. Bleibt zu hoffen, dass sich noch weitere kritische Stimmen zu Wort melden.

Heinz K.

Dirk Oschmann: »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung«, Ullstein 2023, 224 Seiten, 19.99 Euro; der Autor ist am 28. September, 19 Uhr, zu Lesung und Gespräch im Wehnerwerk zu erleben.
Update: Die für den 1. November 2023 im Kulturpalast geplante Diskussionsrunde mit Dirk Oschmann und Cornelius Pollmer ist wg. einer Erkrankung Dirk Oschmanns kurzfristig abgesagt worden und wird zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt.