Die Mauer fällt im Kulturpalast

Die Dresdner Sinfoniker führen »Drüben. Eine deutsche Zeitreise« am 3. Oktober auf

Schon beim Einlass kann das Publikum mit- oder nachempfinden, was es heißt, getrennt zu sein. Das Schicksal (beziehungsweise der Zufall in Form eines Loses) entscheidet – so wie man sich seine Herkunft im echten Leben ja nun auch nicht aussuchen kann – wer auf der östlichen und wer auf der westlichen Seite des Konzertsaals Platz nehmen darf. Dazwischen eine Schneise, die den einst schwer bewachten Grenzstreifen nebst Mauer zwischen den beiden Systemblöcken symbolisiert. Auf einem Wachturm über der Mauer bezieht der Dirigent (Jonathan Stockhammer) Position, um von dort aus das geteilte Orchester zu leiten. Und während man noch seinen Platz in der Reihe sucht, beginnt auf der Bühne bereits das Programm. Projizierte, schnell geschnittene Fernsehbilder, Werbeclips der 1960er bis 80er Jahre, zeigen auf zwei großen Screens das Leben, die Träume und Versprechungen auf beiden Seiten der Mauer. Eine große Selbstbau-Antenne, so wie sie einst im Osten gang und gäbe war, um Westempfang zu haben, komplettiert das Bühnenbild auf der Ostseite. Während das Publikum noch in die Röhre schaut, nimmt ein Trupp Schauspielerinnen und Schauspieler Aufstellung. Auf beiden Seiten der Trennlinie, aber mitten im Publikum, präsentieren sie in einer Art Liederwettstreit bekannte Popsongs aus Ost und West, von Silly oder Lindenberg, Gundermann oder Grönemeyer in einer reduziert-deklamierten Fassung und jeweils begleitet vom West- oder Ostorchester.

Während der Feierlichkeiten zum 40. Gründungstag der DDR haben die Grenztruppen der DDR den Grenzkontrollpunkt Checkpoint Charlie mit Absperrgittern abgeriegelt. Foto: Ein DDR-Grenzposten hinter der Absperrung; Copyright: Christoph Püschner.

Für Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker, ist die in Kooperation mit der Dresdner Philharmonie mit Mitteln der Musik und des Theaters von Tom Quaas inszenierte Zeitreise eine Herzensangelegenheit, gehörte er doch schließlich zu jenen DDR-Flüchtlingen, die am 4. Oktober 1989 als »zweite Welle« aus der bundesdeutschen Botschaft in Prag über das Gebiet der DDR per Zug in die BRD »ausgewiesen« und so zum Auslöser für die Massenproteste gegen das SED-Regime wurden. Für »Drüben«, 33 Jahre nach dem historischen Ereignis, haben die Dresdner Sinfoniker nun unter anderem ein Werk in Auftrag gegeben, das der Münchner Komponist Markus Lehmann-Horn »Utopian Melodies (yelling at me!)« nennt und worüber er sagt: »Dieses Werk wurde komponiert in Gedenken an gefallene (oder doch noch nicht gefallene) Mauern – zwischen uns als Einzelpersonen, innerhalb der deutschen Bevölkerung oder zwischen Nationalstaaten.« Dementsprechend werden diverse Hymnen und bekannte Lieder zitiert oder als Allusion benutzt, so wie auch Nationalhymnen tradierte Musik benutzen, um Identität oder Ideologie zum Ausdruck zu bringen. Und gegen Ende des Werkes für geteiltes Orchester fällt die Mauer …

Von jubelnden Menschenmassen werden knapp 800 DDR-Übersiedler auf dem Bahnhof im bayerischen Hof empfangen. Mit Sonderzügen der Deutschen Reichsbahn trafen sie am 5. Oktober 1989 aus Prag kommend, wo sie teilweise wochenlang auf dem Gelände der Bundesdeutschen Botschaft auf eine Einreisemöglichkeit in die Bundesrepublik gewartet hatten, ein. Viele fuhren noch am gleichen Tag in die Aufnahmelager weiter. Unter den Ausgereisten: Markus Rindt, der heutige Intendant der Dresdner Sinfoniker.

Nach der Pause geht es im nunmehr wieder vereinten Konzertsaal mit einer Uraufführung der britischen Komponistin Charlotte Bray (*1982) weiter. Sie weitet in ihrer Komposition »Landmark« die Perspektive über die deutsche Sicht hinaus, transportiert darin auch eigene biografische Momente und sucht den Bezug zur beängstigend unsicher gewordenen geopolitischen Situation der Gegenwart hörbar zu machen. Am Schluss steht die Frage im Raum: »Was haben wir gelernt?«

Zum Finale erklingt nicht etwa die Nationalhymne oder die Ode an die Freude, sondern das Konzert für Klavier und Bläser von Igor Strawinsky. Das 1923/24 in Paris entstandene Werk ist im Ergebnis ein farbiges Meisterwerk von virtuoser Leichtigkeit, das Pianist Andreas Boyde spielen wird. Ob es dann wohl spontan zu Verbrüderungen und Verschwesterungen kommen wird, so wie beim unverhofften Fall der Mauer am 9. November 1989, bleibt offen.

Heinz K.

»Drüben. Eine deutsche Zeitreise« ist am 3. Oktober, 18 Uhr, im Kulturpalast zu erleben.