Der Hunger auf Kultur

Wie Künstler, Kulturinstitutionen und die ganze Veranstaltungsbranche ums Überleben kämpft – von Heinz K.

»Ich könnte mir vorstellen«, hatte Torsten Tannenberg, Geschäftsführer des Sächsischen Musikrates Ende Januar in einem Interview mit dem MDR geäußert, »dass der eine oder andere [Musiker] sich jetzt doch überlegt, sein Lebensmodell zu ändern und einen festen Job annimmt.« Der Landesmusikrat Berlin hatte zu dem Thema eine Umfrage gestartet und alarmierende Zahlen veröffentlicht, nach denen 29 Prozent aller freischaffenden Musikerinnen und Musiker keine Zukunft mehr in ihrem Beruf sehen und beabsichtigen, die Branche zu wechseln oder dies bereits getan haben. Für nicht eben wenige Soloselbständige blieb es anscheinend nicht bei der Überlegung, sondern wurde zu einer Notwendigkeit, um den eigenen Lebensunterhalt noch selbst bestreiten zu können. Die Alternative, die keine ist, lautet Hartz IV.

Das geht nicht nur Künstlern und Kreativen so, die seit zehn Monaten keine Auftritts- und somit auch kaum Verdienstmöglichkeiten haben und die noch immer auf die versprochene November- oder Dezemberhilfe des Bundes warten, sondern auch personell und finanziell gut aufgestellte Unternehmen der Veranstaltungsbranche stehen vor dem Aus. Denn die Kulturwirtschaft hatte es zuerst getroffen, damals beim ersten Lockdown im März 2020, und es wird wohl die letzte Branche sein, die sich wieder regen und frei entfalten kann, wenn wir das Corona-Virus und dessen Mutationen endgültig besiegt haben werden. Aber wann wird das sein?

Glaubt man führenden Virologen, die zum Beratergremium der Bundeskanzlerin zählen, dann sind vielleicht im Sommer 2021 erste Lockerungen möglich. Vorausgesetzt, der gelieferte Impfstoff reicht. Die Ende Dezember auch in Sachsen nur schleppend angelaufenen Impfungen machen jedenfalls wenig Hoffnung, dass wir im Juni oder Juli wieder unbeschwert Festivals und kulturelle Großereignisse ohne Sicherheitsabstand genießen werden. Digitale Angebote, so ambitioniert oder gut gemacht sie auch sein mögen, können das physische Erlebnis nicht ersetzen. Je länger das kulturelle Leben brachliegt, umso größer wird der Hilfsbedarf und die Sorge, dass danach, wenn alles wieder hochgefahren werden kann, einigen Kulturträgern – ob privatwirtschaftlich organisiert oder öffentlich gefördert – inzwischen die Puste ausgegangen ist.

Der Fördertopf ist leer

Was wird dagegen unternommen? Die Landeshauptstadt Dresden etwa hat insgesamt 225.000 Euro zur Förderung der freien Kulturszene in der Krisenzeit zur Verfügung gestellt. Unterstützt wird sie bei »Kunst trotzt Corona« vom Branchenverband »Wir gestalten Dresden«. Die Gelder wurden in mehreren Förderphasen in Form eines 1:1-Matching-Funds über Crowdfunding-Kampagnen auf startnext.de verteilt, was ein zeitgemäßer und kluger, weil verbindender und aktivierender Ansatz ist. Kulturbegeisterte Dresdner erhalten damit die Möglichkeit, selbst aktiv das kulturelle Leben der Stadt mitzugestalten, indem sie Projekte ihrer Wahl schon mit kleinen Beträgen fördern und damit zur Realisierung verhelfen können. Für jeden gespendeten Euro legt die Stadt einen Euro dazu, je Projekt maximal 2.500 Euro. Solche Matching-Funds sind grundsätzlich motivierend für alle Seiten, ideal auch für die Projektbeteiligten, weil sie so nur einen Teil des gesamten Finanzrahmens selbst beschaffen müssen. Wer als erstes entsprechend viele Unterstützer gefunden hat, wirbt die maximalen 2.500 Euro für sein Projekt ein.

Nun verhält es sich aber so, dass nicht alle Kampagnen gleichzeitig gestartet sind. Da bei jeder Crowdfunding-Kampagne die Möglichkeit des Scheiterns besteht, gibt es die Gefahr, dass Teile der Gelder nicht vergeben werden können. Kommt es dazu, dass ein Projekt nicht erfolgreich finanziert werden kann, werden die darin aktuell gebundenen Mittel innerhalb des Fonds wieder freigegeben. Bereits seit Anfang Dezember ist der Fördertopf leer. Für noch laufende Kampagnen bedeutet dies, dass die Stadt nichts mehr dazu gibt. Nicht allen ist dieses Vergabeprinzip, das auch als »Windhundrennen« bezeichnet wird, bekannt. So ist es dem Frei-Spieler-Kollektiv (in Kooperation mit der HfBK und dem projekttheater) gerade noch so gelungen, für die Crowdfunding-Kampagne ihrer neuesten Theater-Inszenierung, den SciFi-Western »Walks Looking«, den Matching-Fund der Stadt anzuzapfen, bevor er ausgeschöpft war. Der für den 4. Februar geplante Premierentermin war freilich nicht zu halten – das Infektionsgeschehen hat das nicht zugelassen. Die Frei-Spieler rechnen jetzt mit der Premiere im zweiten Halbjahr 2021. Andere Projekte gingen leer aus. Diese Konstellation ordnet Matthias Daberstiel, Experte für Crowdfunding und Spenden, als kontraproduktiv ein: »Eigentlich ist das eine tolle Idee. Hier wird gefördert, dass die Künstler auch jetzt kreativ sind und gleichzeitig, dass die Dresdner diese Projekte unterstützen. Am Ende wird allerdings deutlich, dass sich die Künstler bemüht und Arbeit in die Kampagne investiert haben, aber es kommt nicht so viel Geld dabei herum, wie ursprünglich erwartet. Sicherlich war es Ziel der Stadt, möglichst viele Projekte davon profitieren zu lassen, damit auch möglichst viele Dresdner spenden. Aber dass das Geld nicht reichen könnte, wurde nicht diskutiert. Clever und auch fair wäre es an dieser Stelle von Seiten der Stadt, hier nachzulegen. Aber angesichts des aktuellen Haushaltes geht das natürlich nicht.«

Initiative Kulturgesichter: Es geht um das Sichtbarmachen der Leidtragenden

Fotoshooting für Kulturgesichter, Copyright Foto: Uwe Stuhrberg

Weil das alles nicht ausreicht, regt sich in den letzten Monaten des Jahres in mehreren großen Städten die Initiative »Kulturgesichter«. In Hamburg ging es wohl los, Stuttgart zog mit. So berichtet es Martin Vejmelka, Geschäftsführer der Agentur Landstreicher Konzerte: »Mit den dortigen Akteuren arbeiten wir schon viele Jahre zusammen. Da hat es nicht lange gedauert, bis sie uns gefragt haben, ob wir das nicht für Dresden übernehmen wollen. Dann hab ich mich mit Stephan »Erich« Tautz von der GrooveStation zusammentelefoniert. Kurze Zeit später war dann auch Mirko Glaser vom Blue Note mit im Boot.«

Zweck der Aktion ist es, ein Ausrufezeichen aus der brachliegenden Kulturlandschaft zu senden. Oder besser: von deren Akteuren in der gesamten Bandbreite bis zu den technischen Gewerken und den Dienstleistern, die für ein gelungenes Event unentbehrlich sind. Weil diese im Wortsinn von der Bildfläche verschwunden scheinen und nach der mittlerweile katastrophal langen Durststrecke befürchten, die kulturaffinen Dresdner könnten sich an ein Leben ohne Party, Konzert oder Lesung gewöhnen, wollen sie sich selbst Sichtbarkeit verschaffen. Kern der Aufmerksamkeitskampagne, die zum Großteil über Social Media läuft, sind Plakate, die im öffentlichen Raum als klare, reduzierte Statements die Gesichter, die Macher, die Leidtragenden in den Mittelpunkt rücken. Seit Mitte Januar liefen dafür im Alten Schlachthof die Shootings.

»Die Lage ist existenziell. Es gibt Kollegen, die aus der Not heraus bereits den Beruf gewechselt haben«, mahnt Uwe Stuhrberg, seines Zeichens Konzertveranstalter, der für die hiesige Initiative die Pressearbeit übernommen hat. »Das Ganze ist aus der bundesweiten Aktion ‚Ohne uns ist’s still’ hervorgegangen. Wir arbeiten jetzt hier, ganz ähnlich wie schon die Kollegen in Leipzig und Chemnitz, auf regionaler Ebene, direkt in der Stadt«, so das Credo. Die Portraits fallen dabei bewusst schlicht aus, darunter steht lediglich der Vorname der abgebildeten Person. »Es geht nicht darum, Betroffenheit zu demonstrieren. Wir wollen auch keine Werbung für konkrete Firmen oder dergleichen«, erläutert Martin Vejmelka. Und dies ist auch gut und richtig so. Denn hier geht es schlicht und ergreifend um das Überleben einer ganzen Branche, die immerhin etwa 1,5 bis 1,7 Millionen Menschen beschäftigt. Zum Jahrestag der Pandemie wollen sich die Bündnisse der drei großen sächsischen Städte zusammentun. Für Mitte März sind dann große Aktionen im öffentlichen Raum geplant. Weitergehende konkrete kulturpolitische Forderungen sind damit allerdings nicht verbunden. So weit will sich die Kulturgesichter-Initiative dann doch nicht aus dem Fenster lehnen. Es fehlt offensichtlich auch an einer Struktur, um Handlungsempfehlungen für öffentliche Veranstaltungen erarbeiten zu können.

Kultur ist unser aller täglich Brot

Erprobte Hygiene-Konzepte gibt es aber schon an anderer Stelle. Mit einem Brief an die Kulturverantwortlichen von Bund und Ländern haben sich die Leitungen 50 führender Häuser für eine Öffnung der Museen stark gemacht. »Unsere Sorge gilt der Eindämmung der Pandemie, zugleich aber auch einer dem jeweiligen Verlauf von Corona angepassten Wiedereröffnung der Museen«, heißt es in dem Schreiben an Kulturstaatsministerin Monika Grütters sowie ihre Länderkolleginnen und -kollegen. »Die Museen haben schon nach der Phase des ersten Lockdowns ihre Häuser mit großer Sorgfalt der neuen Situation angepasst«, schreiben die Verantwortlichen. Museen seien sichere Orte, in denen Hygienemaßnahmen strikt befolgt und »wie an keinem anderen öffentlichen Ort« überwacht würden. Die meisten Museen verfügten über eine ausgefeilte Klimatechnik und Raumkapazitäten, die Bewegungsabläufe nach Distanzgebot steuern und entzerren könnten. »Es ist Konsens, dass sie seit Beginn der Pandemie nicht als Orte eines Infektionsgeschehens aufgefallen sind.«, heißt es weiter. Die Schließung von Museen wurde auch mit der Verringerung von Kontakten begründet, etwa bei der An- und Abfahrt mit öffentlichem Nahverkehr. Aber dieses Argument ist fadenscheinig, denn gerade Museen könnten »für den Hunger auf Kultur ein Angebot machen, ohne die gesellschaftliche Solidarität in Frage zu stellen«, so die Verfasser des Briefs, zu denen auch Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, gehört. In der Tat ist es schwer zu verstehen, weshalb gerade Museen, die ja der kulturellen Grundversorgung dienen, bei langsam sinkenden Inzidenz-Zahlen geschlossen bleiben müssen.

Die sächsischen Theater jedenfalls müssen mindestens bis Ende März ihre Türen geschlossen halten. An einen normalen Probenbetrieb ist unter den derzeit geltenden Kontaktbeschränkungen ohnehin nicht zu denken. Daher werden geplante Premieren und Gastspiele ins Ungewisse verschoben oder gleich ganz gestrichen. An dieser wie auch an anderer Stelle mangelt es an Planbarkeit, ab wann wieder ein Kulturereignis unter welchen Voraussetzungen stattfinden kann. Eine verbindliche Antwort darauf ist die Politik in Bund und Ländern bislang schuldig geblieben. Gern wird im Zusammenhang mit dem Auf und Ab des Infektionsgeschehens, dessen zweite Welle wir gerade erleben und die offenbar von niemandem in verantwortlicher Position vorausgesehen wurde, mit dem erhobenen Zeigefinger auf andere gezeigt. Aber das ist kontraproduktiv. Anhaltspunkte dafür, dass Museen, Theater, Kinos oder Konzertsäle stark zum Infektionsgeschehen beigetragen haben, gibt es nicht. Eintrittskarten wurden meist nur personalisiert ausgegeben. Die Rückverfolgung etwaiger Infektionsfälle ist gerade hier relativ leicht. Doch ist dies nicht die Zeit für Differenzierungen. Das Gegenargument lautet, kein Lebensbereich könne gegenwärtig von sich behaupten, die Ansteckung nicht zu begünstigen. Kultur aber ist unser aller täglich Brot.

Alle derzeit noch aktuellen Crowdfunding-Projekte finden sich unter startnext.com
Kulturgesichter Dresden: allmylinks.com/kulturgesichterdresden