Im Gespräch mit Familientherapeutin Sylvia Betscher-Ott
Es gibt kaum ein Thema, das in vielen Familien mit weniger Emotionen beladen ist als Weihnachten. In unserem Kulturkreis gilt es als das Familienerlebnis, das der Selbstvergewisserung als Gemeinschaft dienen soll. Also machen sich jedes Jahr Heerscharen von Studenten, Singles und auch Paaren kreuz und quer durch die Republik auf den Weg, um unter dem Weihnachtsbaum die immer gleichen Rituale abzuhalten – gemeinsames Essen, gemeinsames Singen, Erzählen oder Gottesdienstbesuch, dann Geschenke auspacken, sich mehr oder weniger freuen, am nächsten Tag das Gleiche bei Oma und Opa. Und Erleichterung darüber, das Ganze einigermaßen ohne Streit überstanden zu haben. Nun scheint das Fest der Liebe ziemlich unsinnig, wenn allerorten »Kontakte reduzieren« das Diktum der Zeit lautet, und Familien unter dem Brennglas von Corona als »viraler Hotspot« definiert werden. Wie also dieses Weihnachten über die Bühne bringen? Darüber sprach DRESDNER-Herausgeberin Jana Betscher mit ihrer Schwester Sylvia Betscher-Ott, Gründerin des Würzburger Institus für systemisches Denken und Handeln und seit Jahrzehnten als Paar- und Familientherapeutin tätig.
Verunsicherung allerorten. Darf die Oma an Heiligabend nun dabei sein, sollte sie? Kann ich mich mit meinen Freunden treffen? Kurzum: Ist das Fest der Liebe in Gefahr?
Sylvia Betscher-Ott: Ja, auf alle Fälle! (lacht). Sicherlich stellen uns diese Weihnachtsfeiertage vor interessante Herausforderungen. Das wohl durchgeplanteste Familienereignis des Jahres lässt sich unter den derzeitigen Bedingungen schlecht planen. Und dies schafft weitere Unsicherheiten in den von vielen als sehr unsicher wahrgenommenen Zeiten. Aber zu sagen ist: Das Feiern in der Kernfamilie ist ja auf alle Fälle möglich. Wer sich unsicher ist, wie älteren oder kranken Familienmitgliedern zu begegnen ist, kann sich mit einem Test ein wenig Zuversicht verschaffen. Aber das Risiko, sich oder andere anzustecken, ist natürlich trotzdem da.
Schafft diese Unsicherheit nicht noch mehr Konflikte, denn an Weihnachten werden ja häufig nicht nur die Gemeinsamkeit betont, sondern auch immer wieder gerne Unterschiede in Charakter und Auffassung thematisiert?
Sylvia Betscher-Ott: Und da hat das Thema, wie die Coronamaßnahmen zu bewerten seien, mit Sicherheit erhebliches Streitpotential. Nimmt man dann noch Auseinandersetzungen, zum Beispiel über veganes Essen dazu, und kombiniert das Ganze mit den Animositäten und alten Wunden, die zu Weihnachten gerne aufgerissen werden, dann mag es in mancher Familie in der Stillen Nacht zu Konflikten kommen. Deshalb würde ich an dieser Stelle den Spieß gerne umdrehen: Statt darüber zu sinnieren, wie schrecklich dieses Weihnachten werden könnte, ist es lohnenswert, über Weihnachten neu nachzudenken.
Die Krise als vielbeschworene Chance?
Sylvia Betscher-Ott: Das hört sich im ersten Moment tatsächlich ein wenig sarkastisch an. Dennoch, wir alle kennen Menschen oder wir gehören vielleicht auch selbst dazu, für die Weihnachten in erster Linie mit viel Aufwand und wenig vergnüglichen Stunden verbunden ist. Und sich aus dieser als Pflichtübung empfundenen Situation zu lösen, dafür bietet Corona einen recht eleganten Ausweg. Vielleicht mag man wirklich lieber Weihnachten zu Hause verbringen, statt für ein paar Stunden Familienfest durch die ganze Republik zu fahren. Vielleicht möchte man sich in diesen Tagen wirklich lieber mit seinen Freunden umgeben und sich nicht die immergleichen Geschichten von Onkel Erwin anhören? Die derzeitige Situation kann die Gelegenheit sein, mit den Eltern und Großeltern zu besprechen, ob man nicht dieses oder jenes bleiben lassen oder anders machen könnte und möchte. Zusammengefasst: Die Chance liegt tatsächlich darin, Rituale zu überprüfen und neue Rituale zu entwickeln.
Aber die Vorstellung, Weihnachten alleine zu verbringen, selbst wenn man sich nach etwas Ruhe sehnt, ist das nicht auch gruselig?
Sylvia Betscher-Ott: Das muss nicht sein. Denn wenn wir uns klarmachen, dass es dieses Jahr vielen so ergeht, fühlen wir uns weniger einsam. Das ist ein tröstlicher Reflex unserer Seele. Vielleicht sollte man für sich überlegen, warum Weihnachten derartig mit Bedeutung aufgeladen ist. Denn objektiv gesehen ist es kein Weltuntergang, wenn Weihnachten einmal nicht so stattfindet, wie es immer stattgefunden hat. Natürlich gibt es Umstände, die einen wenig froh machen. Mein Mann und ich zum Beispiel verbringen Weihnachten mit vielen Freunden. Die großen Festrunden fallen nun aus. Dann ist eben Kreativität gefragt, zu überlegen, wie man trotzdem eine schöne Zeit miteinander verbringen kann, zum Beispiel beim Spazierengehen. Mein Mann und ich werden also dieses Jahr um Weihnachten herum viel an der frischen Luft sein. Und einmal nicht für 15 oder 20 Leute einkaufen zu müssen, hat ja schließlich auch etwas für sich.
Vielen Dank für das Gespräch!
Sylvia Betscher-Ott, Dipl.Soz.Päd., Lehrtherapeutin für System- und Familientherapie (DGSF) Supervisorin (DGSv), Approbation als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Weiterbildung in Gesprächspsychotherapie, Eheberatung und Mediation; langjährige Mitarbeit an einer Erziehungs- und Eheberatungsstelle; in freier Praxis tätig mit den Schwerpunkten Therapie, Supervision und Fortbildung; wuerzburger-institut.de