Wege ins Innere – Die Semperoper bringt mit »Labyrinth« nur einen mittelmäßigen Ballettabend


04. November 2018 – Der Titel des Abends als bildliche Klammer ist tatsächlich nicht schlecht gewählt. Ein Labyrinth bietet Wege, Linien, Fluchten, Aussichten genauso wie Sackgassen, Enttäuschungen und ist das Sinnbild für psychologische Aussichtslosigkeit schlechthin. All das findet sich im neuen Ballettabend der Semperoper. Von den Stühlen hat er das bekanntermaßen dankbare Ballett-Publikum trotzdem nicht gerissen.


Den Anfang macht, wie es in der Dramaturgie der gemischten Abende an der Semperoper immer wieder gern gebracht wird, die älteste der Arbeiten. Balanchines »Die vier Temperamente« ist hinsichtlich der Bühne, der Kostüme und des Lichts pure Reduktion. Und da ist sie, die Geradlinigkeit, die ein Labyrinth ausmachen kann. Diese Geradlinigkeit bedeutet bei Balanchine aber niemals Strenge. Das bedeutet auch, dass er bei der Vorstellung jener mittelalterlichen Charakterzüge, dem Melancholischen, Sanguinischen, Phlegmatischen und Cholerischen, eben nicht in dramaturgische Eindimensionalität verfällt. Die Gesamtheit ist die Summe: Die Mischung macht den Menschen aus.


Jedem Tänzer muss es vor einer solchen Choreografie grauen, zeigt sie doch jeden Wackler, jeden Ausrutscher in vollem Licht. Dass hier jeder seine Hausaufgaben gemacht hat, sollte nicht weiter erwähnenswert sein. Das erwartet man an einem solchen Haus, weil man es erwarten darf. Das Premierenpublikum belohnte die Tänzer entsprechend begeistert.


Angesichts der Tatsache, dass Balanchines Arbeit mittlerweile fast 80 Jahre auf dem Buckel hat, kann man über die Allgemeingültigkeit seiner Formensprache gern staunen. Individueller verhält es sich dahingegen mit der nur ein paar Jahre jüngeren Arbeit Martha Grahams. Ihr kurzes »Errand into the Maze« von 1947 ist von starker Weiblichkeit geprägt. Der symbolische Kampf der einzelnen Tänzerin gegen den Minotaurus mag an sich zeitlos sein, die Formensprache ist es nicht. Im ursprünglichen Bühnenbild von Isamu Noguchi und mit den Kostümen, die Graham selbst entworfen hatte, mag man dem ganzen eine gewisse Authentizität ablesen können. Trotzdem oder genau deswegen wirkt dieser grundsätzliche Emanzipationsversuch etwas angestaubt. Zudem darf man sich fragen, ob dieser innere Kampf einer Frau nicht mit einer älteren Tänzerin besser besetzt wäre. Wenn jemand überzeugend eine persönliche Revolte wiederzugeben in der Lage ist, ist es in der Regel nicht die Jugend.


Die Arbeit setzt komplett auf Geschlechterdifferenzen und damit einhergehende Symbolik. Diese Dualität funktioniert so heute nicht mehr. Das bezeichnet zwar die Dramaturgie, schließt das Bewegungsvokabular allerdings ein. Das krampfhafte, direkt verkrampfte Spreizen der Hände vor der Körpermitte, um nicht zu sagen: vor dem Geschlecht, spricht Bände.


Bände spricht auch jede einzelne Arbeit Ohad Naharins. Und das in der Regel in fremden Zungen. Er ist der Meister der Verklausulierung, des Aufladens mit vermeintlichen Symbolen. Ohad Naharin ist ein Mystiker mit einem Bein im Sekulären. Das Ballett der Semperoper zeigt mit »Black Milk« eine Arbeit, die er bereits 1985 für eine komplett weibliche Besetzung geschaffen hatte und die er 1991 erstmalig nur mit Männern auf die Bühne brachte. Nur unter der Begleitung von Marimbafonklängen vollführen die fünf Tänzer hier etwas, das bis heute von der Kritik gern und schnell als rituelles Gebaren bezeichnet wird. Diese Assoziation liegt tatsächlich nahe. In goldenes Licht getaucht beginnt die Arbeit mit einem Tableau vivant, das geradezu als biblisch bezeichnet werden darf, wenn ein Tänzer mit nacktem Oberkörper sein Beinkleid so um die Hüfte drapiert, dass nur der Pfeil in der Seite fehlt, um ihn zum Heiligen Sebastian zu machen. Geht man von heutigen Arbeiten Naharins aus, kann man zweifelsfrei seine Handschrift erkennen. Alles andere würde auch überraschen. Wofür er heute bekannt und berüchtigt ist, ist allerdings eine stärker differenzierte Dramaturgie. Hier peitscht er seine fünf Tänzer durch eine atemlose Abfolge scheinbar erprobter, eben ritualisierter Gesten. Das findet sich immer noch in seinen Arbeiten, hier aber fällt alles eher hektisch aus, trotz der nötigen ruhigen Sequenzen. Konzentrierter ist wohl der Begriff, den man für Naharins jüngste Arbeiten verwenden könnte. Die Kraft und Energie, die »Black Milk« inne wohnt, ist trotz allem beispiellos. Es ist ein Hochgenuss, den fünf Tänzern im Turnus ihrer Gesten folgen zu dürfen und gleichzeitig die ganze Zeit außen vor zu bleiben. Genau das ist Naharin.


Außen vor zu bleiben kann für den Zuschauer freilich aber auch zum ungewollten Status werden. Mit Sicherheit trifft das auf einige im Publikum zu, was die letzte Arbeit des Abends, Joseph Hernandez‘ Uraufführung von »Songs for a Siren« anbelangt. Dabei ist der Ansatz keineswegs schlecht. Barret Anspachs Komposition bietet einen abwechslungsreichen, interessanten Klangteppich, der jegliche Filmmusiken geschluckt zu haben scheint und von Tempiwechseln lebt. Auf der Bühne agiert in einer Art Ausschnitt einer überdimensionalen Schüssel eine Gesellschaft, die alles andere als homogen ist. Einer Gruppe von sieben Tänzerinnen und Tänzern stehen eine Dame in Grün und zwei schwarze Figuren gegenüber. Da sind Interaktionen erkennbar, aber kein Geschehen. Es ist keine Handlung, sondern ein Ist-Zustand der hier aufgezeigt wird. Das hat Potenzial, nur greift die Sache einfach nicht. Die Choreografie ist lebendig, bleibt aber ohne tatsächliche Aussage. Da scheint es soziale Spannungen zu geben, Andeutungen, die aber ins Leere laufen. Das zieht sich hin, ohne dass der Zuschauer daran Interesse entwickeln kann. Das hatte zur Folge, dass bereits einige Besucher den Saal noch vor Ende des Applauses verlassen hatten. Von den sonst an einem solchen Abend nicht selten erlebten stehenden Ovationen gab es keine Spur.

Rico Stehfest / Fotos: Ian Whalen

Nächste Vorstellungen: 14., 16., 18., und 21. November in der Semperoper



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