Und der Mensch bleibt schuldig – die bühne bringt mit »Strom der Zeit« ein bewegtes Performance-Stück

03. Februar 2019 – Um die Nüchternheit eines Hörsaals in einen dimensionslosen Assoziationsraum zu verwandeln, bedarf es lediglich einiger weißer Planen, mit denen Valentin Reichert den Großteil des Raumes abgehangen und so einen neutralen Kubus geschaffen hat. Die bühne, das Theater der TU, hat sein Repertoire um ein Performance-Stück erweitert und wagt sich seit einem ersten, gescheiterten Versuch eines Tanztheaters vor einigen Jahren damit erstmals wieder in den Bereich des mehr oder minder abstrakten, nonverbalen Ausdrucks.

Bedenkt man, dass Regisseur Reiner Lange selbst bislang keine Erfahrungen mit derartigen Inszenierungen hat, nennen wir es nicht gleich Choreografie, ist es desto bemerkenswerter wie vollkommen schlüssig das Konzept ist und zu welcher Intimität er seine jungen Performer im Miteinander im Bühnenraum bringen konnte.

Das Konzept der Guckkastenbühne ist hier aufgebrochen; das Publikum ist um die gesamte Spielfläche herum platziert, was den Darstellern keinerlei Raum zum Verstecken, zum Pausieren gibt. Anfangs hocken vier Wesen verteilt auf Stühlen im Publikum, eine fünfte »Figur« steht regungslos im Mittelpunkt der Fläche. Wenn dieses Zentrum langsam, kriechend von den Akteuren umkreist und schließlich eingenommen wird, zeigt sich das Spiel mit Identität und Individuum: Die Performer tragen Masken, qua derer sie anonymisiert sind. Zumindest theoretisch. Dabei ist aber jede der Masken unterschiedlich gestaltet und beweist ihre eigentliche Individualisierung genau in jenem Moment, in dem die Performer diese Masken ablegen und ihre Gesichter darunter keine sind. Alle fünf tragen die Geschlechtergrenzen nivellierende, graue Ganzkörperanzüge, die auch den Kopf und die Gesichter komplett einschließen. Erst sukzessive schälen sich die tatsächlichen Köpfe aus den Kapuzen. Endgültige Individualität?

Was die Performer in den knappen vierzig Minuten vollziehen, lässt sich mühelos als ein komplexes Menschheitspanorama lesen. Obwohl die einzelnen Szenen mitunter ohne Bezug zueinander zu stehen scheinen, ergibt sich das klare Bild einer bewussten Dramaturgie. Hier hat sich auch ganz klar ausgezahlt, dass die Truppe für die Erarbeitung dieser Inhalte mit einem halben Jahr deutlich mehr Zeit hatte als für eine Inszenierung an der bühne in der Regel angesetzt wird. Das zahlt sich in der Intensität des Miteinanders aus, das von großer Intimität und unweigerlicher körperlicher Nähe geprägt ist. Und das überzeugt.

So lassen sich immer wieder scheinbar ganz deutlich Konflikte zwischen dem Einzelnen und dem Rest der Gruppe herauslesen. Die Sozialisierung des Menschen als ewiger Kampf. Da bleiben Mord und Totschlag nicht aus. Und direkt daneben steht die Geste der Versöhnung. Alles wird und vergeht. Das muss kein Kreislauf sein, aber in jener Welt, die äußerst gekonnt durch die Sounds von Maximilian Worms getragen werden, gibt es keine kleinen Gesten. Und das, obwohl eigentlich alles fast im Bereich des Abstrakten bleibt. Schlussendlich kennt der Mensch aber seine Abgründe. Deshalb lässt sich diese Arbeit so mühelos lesen.

Rico Stehfest / Fotos: Maximilian Helm

nächste Vorstellung: 03. Februar 2019, die bühne, 20.15 Uhr.



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