Jeder Kiesel ein Leben – In Hellerau ist »The Great Grand Other« eine sensible Auseinandersetzung mit Geerbtem

26. Mai 2023 – Im Vorfeld durfte das Publikum rätseln, warum ausgerechnet für eine Performance im Nancy-Spero-Saal festes Schuhwerk empfohlen wurde. Hat sich jeder erst mal einen Klapphocker unter den Arm geklemmt, wird die Sache aber gleich beim Betreten des Saals klar: Der gesamte Boden ist mit einer dicken Schicht Kiesel bedeckt. Der Lärm, der beim Darüberlaufen entsteht, lässt einen besonders vorsichtig auftreten. Das Geräusch klingt alles andere als gut. Welche Assoziationen lauern da um die Ecke, wenn es so unschön zu knirschen anfängt?


Hat man sich erst mal irgendwo im Raum mit seinem Höckerchen mehr oder minder bequem eingerichtet, fällt auf, wie sich Dina Zaitev und Michael McCrae langsam über dieses Meer aus Steinen bewegen, den Blick auf den Boden fixiert, eine Taschenlampe in der einen Hand, die sondierend etwas zu suchen scheint. Was sie dabei finden, sind, vereinfacht gesagt, unser aller Spuren.


Die beiden Performer haben sich mit jenen Spuren auseinandergesetzt, genauer gesagt mit jenen Spuren, die sie in ihrem eigenen Leben wahrnehmen, die aber eben nicht von ihnen selbst stammen, sondern von den Altvorderen, den Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten: »War Dein Großvater ein Nazi?« Zaitevs Frage an McCrae hat keinen gnädigen Unterton, während er, mit dem Rücken zur Wand vor einer Kamera sitzt, die jede seiner Gefühlsregungen in großformatiger Projektion an die Wand wirft. Und sie hat noch mehr solche unbequemen Fragen im Gepäck. Fragen nach Mord, nach Vergewaltigung, nach Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. McCrae hat auf viele von ihnen immer wieder die gleiche Antwort: »Ich weiß es nicht«. Was kann man wissen? Was will man wissen? Und wer von jenen, die es wissen, ist bereit, die Wahrheit zu sagen?


Am Rand des Geschehens, anfangs mit dem Gesicht zur Wand, sitzt Melanka Piroschik, die Geige auf dem Schoß. Leise singt sie; irgendwann lässt sich Jiddisch erkennen. Das Judentum, der Holocaust, der auch ohne Mord und Tod ungezählte Identitäten zerstört hat. Viele Stimmen sprechen davon, recherchierte, aufgezeichnete Erinnerungen, teils namentlich bekannter Verwandter, teils anonym in den Raum gestellt. Väter und Söhne, die aus dem Krieg nicht zurückgekehrt sind. Gräber, die in weit entfernt liegenden Ländern ausgehoben worden sind, in Ländern, die es so gar nicht mehr gibt. Sibirien, Russland. Was bedeutet es, durch einen Krieg fast alles zu verlieren?


Hinterbliebene sind auch die nächsten Generationen. Die sind es, die von Panikattacken erzählen, von depressiven Schüben, die in ihrem Charakter auf eine genetische Vorbelastung hindeuten. Transgenerationelle Traumata, die Erfahrungen in die DNA eingeschrieben haben.


Den Mittelpunkt der Performance bildet eine Szene, die trotz des dokumentarischen Charakters der gesamten Arbeit durchaus als eine Art »Illusionsbrechung« gelten kann: Die Beteiligten kommen in einem Stuhlkreis zusammen, der Begriff der Selbsthilfegruppe wäre hier wohl aber unflätig. Sie tauschen sich aus über das im Moment Empfundene. Von schweißnassen Händen ist da die Rede, von der Angst, zu versagen, der Angst, der Sache nicht gerecht werden zu können. Dabei erscheint ein Scheitern im eigentlichen Sinn hier unmöglich. Eine solche Form der Auseinandersetzung, sei sie auch noch so subjektiv und in ihren Möglichkeiten begrenzt, ist der eigentliche Akt und als solcher bereits ein Zeichen für Bereicherung, wenngleich eine schmerzhafte. Und nicht wenige Zuschauer spielen währenddessen gedankenverloren mit einzelnen Kieseln und den Erinnerungen unter ihren Füßen.

Rico Stehfest / Fotos: Klaus Gigga

nächste Vorstellungen: 26. und 27. Mai, Festspielhaus Hellerau, jeweils 18 Uhr



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