Bock auf Revolution? – An der Bühne wird der Aufstand geprobt

18. Oktober 2020 – Keiner ist beteiligt, könnte man meinen. Niemand ist es, keiner war es. Wer da in weißen Maleroveralls und hinter Guy-Fawkes-Masken steckt, bleibt dem Publikum an der Bühne verschlossen. »Insight Men«, so der offizielle Tenor, sei die Arbeit des Theaterkollektivs anonymoUS. Der Name ist also Programm, klar. Und um Protest geht es.


Dazu wird bei entspannter Mucke in einen Hörsaal im Weberbau geladen. Statt die Zuschauer wie gewohnt hinter dem Klemperer-Saal zu stapeln, steht hier mehr Raum zur Verfügung, der, Corona-Maßnahmen hin oder her, der Kreativität im Wortsinn einfach mehr Platz verschafft. Es gibt keine Bühne, die Performer agieren inmitten des Publikums. Das ist zu anfangs recht anstrengend, da manche Textpassagen hinter den Masken kaum zu verstehen sind. Daran gewöhnt man sich aber.


Wenn die Rollos heruntergelassen sind und das Publikum festsitzt, gibt es erst mal eine Lehrstunde in Sachen Protestkultur. Wer weiß denn eigentlich, wer Guy Fawkes war? Gunpowder Plot, anyone? Protestkultur in Hongkong, Widerstandsbewegungen und Krisendynamiken. Da wird einem ordentlich was um die Ohren gehauen. Aber keine Sorge: Das ist kein Theaterabend. Dessen wird das Publikum immer wieder versichert.


Dafür gibt’s Kants Kategorischen Imperativ. Und das Publikum wird ausgefragt und gegängelt. Damit muss man bei immersivem Theater rechnen. Bequem war früher. Heute ist Aktion angesagt. Das Publikum wird gezwungen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und soll Stellung beziehen. Nur ist das bei dieser Tour de Force kaum möglich, weil Gedanken und Aspekte und Themenbereiche und Provokationen ohne Unterbrechung über die Zuschauer ausgekippt werden. Das ist ganz schön viel Stoff, der in vielen Momenten auch Verwirrung stiftet. Was hat »Springtime for Hitler« mit Protest zu tun? Ein bisschen wirkt das wie ein Blick ins Internet: Alles ist da, und zwar gleichzeitig. Das muss überfordern. Das, wiederum, hat System.


Die Orientierung wird dem Publikum nämlich immer weiter entzogen, wenn die Grenzen zwischen Performern und Zuschauern aufgelöst werden und man irgendwann nicht mehr weiß, wer gerade neben einem steht. Die Idee ist so simpel wie effektiv. Wenn der Zuschauer selbst in die Rolle des Protestlers gezwungen wird, macht sich Ratlosigkeit breit. Wogegen protestieren? Muss das sein? Was ist heute gesellschaftliche Verantwortung? Und was ist eigentlich aus dem tatsächlichen Protestkollektiv Anonymous geworden? Lange nichts gehört …

Rico Stehfest / Fotos: Luise Kunitz

nächste Vorstellung: 18. Oktober, 19 und 21 Uhr, Eingang Weberbau (Weberplatz)



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