Auf der Suche nach der Handbremse – Die Bühne bringt mit »Apophenia & Epiphany« einen grandiosen Rundumschlag


26. Februar 2022 – Hier ist definitiv eins angesagt: Fasten your seatbelts! Fünf Performerinnen und ein Performer, zunächst noch ganz reduziert in Schwarz, machen von Anfang an klar, dass jetzt hier mal mit den ganzen Themen schön aufgeräumt werden wird. Große Töne werden da gespuckt. Das klingt, als würde da jemand den Mund ganz schön vollnehmen. Am Ende aber wird sich zeigen, dass sich da niemand an irgendwas verschluckt hat. So ernst die Sache gemeint ist, soll sie auch ein bisschen Spaß machen. Das sieht man schon an den verschiedenfarbigen Socken der Performer und dem wunderbar queeren Makeup.


In dieser Stückentwicklung unter der exzellenten Regie von Mathias Kammerer ist ein kollaborativer Text entstanden, der es zwar schafft, innerhalb von weniger als zwei Stunden gefühlte hundert Themen anzuschneiden, dabei aber trotzdem keine Hetzjagd veranstaltet. Schließlich hängt ja auch immer alles mit allem zusammen. Und anders haben wir uns das wohl alle vorgestellt, nicht nur die namenlosen Protagonisten. Sei es das Impfen, die europäische Flüchtlingsproblematik oder Zoff mit dem Ex. Überall Ängste, Sorgen, Traumata. Da heißt es, man schaue sich selbst beim Scheitern zu und könne nix dran ändern. Dabei würde man am liebsten einfach ordentlich einen Saufen gehen. Stimmt. Das ist nämlich alles andere als banal.


Was hier vielleicht chaotisch wirkt, kommt zwar tatsächlich textlich ohne Dramaturgie im herkömmlichen Sinn aus, funktioniert aber reibungslos. In der Mitte der Bühne thront eine quaderförmige Konstruktion, deren Wände aus dünner, semitransparenter Folie bestehen. Darin kommen die sechs Getriebenen immer wieder zusammen, versuchen mal das Miteinander, mal das Gegenteil davon. Aufgehoben sind sie darin allerdings nicht. Wir bleiben alle unbehaust. Deshalb bleiben sie auch nicht in ihrem Unterschlupf. Denn es hat ordentlich Druck. Die Sachen müssen raus, alle, bis zum bitteren Ende.


Eine beeindruckend intensive Szene entsteht, wenn es heißt, der Kapitalismus sei männlich. Dem wird entgegengesetzt, der Mann, wie wir ihn kennen, hätte ausgedient. Was folgt, ist ein »Eingriff am offenen Patriarchat«: Während die Frauenriege still und konzentriert am einzigen Mann im Ensemble (Maximilian Helm) eine OP am offenen Hirn vorzunehmen scheint, berichtet eine der Performerinnen ruhig von langjähriger körperlicher Übergriffigkeit eines Onkels, gegen die sie sich, altersbedingt, nicht zur Wehr setzen konnte.


Es ist unglaublich viel, was diese Inszenierung bietet, und jede Szene funktioniert und überzeugt. Genau so die erst später im Stück hinzukommenden, schlichtweg entzückenden Kostüme von Pauline Malack, die in ihrer Hingabe für Details dem geneigten Publikum hier wahre Perlen vor die Füße wirft. Diese oberflächliche Vergnügtheit und Verspieltheit in den Kostümen lenkt aber eben genau nicht vom eigentlichen Kern ab. Der ist auch ganz explizit sichtbar. Der Wunsch nach eindeutigen Antworten ist es, der Wunsch, gesehen zu werden. Das ließe sich auch anders formulieren. Eigentlich ist das alles die Suche nach Sorglosigkeit, Unbeschwertheit in einer Zeit, in der es das schon lange nicht mehr zu geben scheint. Eine verzweifelte Suche nach der Handbremse für uns alle.

Rico Stehfest / Fotos: Nikolas Fabian Kammerer

nächste Vorstellungen: 24., 25. und 27. März, jeweils 20.15 Uhr



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