Auch das kleinste Geschäft des Führers ist groß!
Zur Premiere »Vaterland« am 23. Februar 2023 am Staatsschauspiel Dresden.

Auch wenn der Untergang des NS-Staates nun bald 80 Jahre zurück liegt, bleibt der deutsche Umgang mit ihm ambivalent: ein Pendeln zwischen Vergangenheitsbewältigung, vorauseilendem Schuldbekenntnis und »nun ist aber auch mal gut«. Aber was wäre, wenn Deutschland den Krieg gewonnen hätte und (fast) niemand vom Holocaust wüsste? Ein unerhörtes Gedankenspiel?

Robert Harris' Alternativgeschichts- und Detektivroman »Vaterland« war bei seiner Veröffentlichung 1992 ein weltweiter Erfolg – außer in Deutschland. Als »frivole Geschmacklosigkeit« oder »deutschlandfeindlich« gescholten, spiegelte die hiesige Rezeption der dystopisch-realistischen Erzählung gerade kurz nach der Wiedervereinigung symptomatisch Deutschlands Verhältnis zur unliebsamen, aber nun mal faktischen Vergangenheit wider.

Das Staatsschauspiel hat sich mit Regisseurin Claudia Bauer nun (wie schon Frank Castorf im Jahre 2000 an der Volksbühne Berlin) an eine Bühnenadaption des heiklen Stoffes gewagt. Klar ist von vornherein, dass Harris verschachtelter Roman nicht in all seinen Facetten übertragen werden kann, ganz zu schweigen von der megalomanischen, durch Albert Speer verwirklichten NS-Hauptstadt »Germania«. In einem schlichten Setting, das sich zwischen dem mehrräumigen Inneren eines schwarzen Kubus und der freien Bühne abwechselt – und unter hohem Einsatz von Live-Videoscreenings –, stellt sich Bauer der durchaus anspruchsvollen Aufgabe des adäquaten Umgangs mit dem NS-Alltag. Sie überführt den ernsten Grundton des Buches in eine mal überaus lustige Gestalt, wie wenn Ahmad Mesgarha als berlinernde Stadtführerin in einer komödienhaften Anfangsszene einer Touristengruppe lebhaft und hinreichend anschaulich die übermenschlichen, teils eigene klimatische Bedingungen entwickelnde Bauten vorstellt und sie und damit die omnipräsenten ideologischen Gottesfantasien der Lächerlichkeit preisgibt (»auch das kleinste Geschäft des Führers ist groß!«). In den richtigen Momenten weiß sie aber auch einen angemessenen Ton zu wahren, etwa in den, nicht für alle im Publikum leicht zu ertragenden Folterszenen oder dem Moment der definitiven Gewissheit über die schier unbegreiflichen NS-Taten.


Viktor Tremmel als Antagonist und skrupelloser Nazi par excellence Globocnik liefert eine grandios furchteinflößende Performance ab, Nadja Stübiger und Yassin Trabelsi geben für sich und gemeinsam, gerade in den Nahaufnahmen, ein heldenhaftes, der Wahrheit und moralischen Richtigkeit verpflichtetes Ermittler-Duo ab, auch wenn ihre sich über den Verlauf entwickelnde Liebesgeschichte nicht wirklich glaubwürdig wird und gut hätte weggelassen werden können. Die »gemeinen« NS-Bürger werden durch harmlos wirkende Kinderpuppenmasken und mit an Zukunftsdystopien wie »Soylent Green« erinnernde glänzende Anzüge der Individualität und Mündigkeit beraubt.

Claudia Bauer illustriert mit einem überzeugenden und über kleine Fehlerchen nonchalant hinwegspielendem Ensemble (deren viele Geschlechterwechsler und Mehrfachbesetzungen hie und da vielleicht Verwirrung stiften), sehr gewaltig, wie totalitäre Ideologie und Propaganda auch über den Nationalsozialismus hinaus und ohne große Umschweife in die Gegenwart übertragbar den Lebensalltag mit der Diktatur-Brille ins Absurde und Lächerliche, aber eben auch Tragische münden lassen.
Philipp Mantze / Fotos: Sebastian Hoppe

nächste Vorstellungen: 3. und 10. März 2023, Schauspielhaus, 19.30 Uhr.



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