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Ungewissheit macht Angst – Julia Leeb im Interview (Copyright Photo: Julia Leeb)
Julia Leeb im Interview (Copyright Photo: Julia Leeb)
■ Julia Leeb ist eine international renommierte Fotografin und Kriegsreporterin. »Menschlichkeit in Zeiten der Angst« heißt ihr neues Buch. DRESDNER-Autor Matthias Hufnagl hat sie zu Kalkulierbarkeit von Risiko, eigener Verletzlichkeit und der Entwicklung des Arabischen Frühlings befragt.

Nach dem Abitur sind Sie für einen Sprachkurs nach Ecuador gereist. Der sollte drei Wochen dauern. Letztendlich blieben Sie sechs Monate in Südamerika und insgesamt sechs Jahre im Ausland. Wie kam es dazu?

Julia Leeb: Ich wollte die Welt mit eigenen Augen sehen.

Haben Sie irgendwann zu Hause angerufen um zu sagen, dass Sie da bleiben?

Julia Leeb: Das war wie bei Scheherazade in 1001 Nacht. Jedes Mal kam eine andere Geschichte, eine weitere Verlängerung dazu. Wie ein Nomade bin ich von einem Ort zum anderen gezogen. Nach drei Monaten haben meine Eltern den Geldhahn zugedreht. Dann arbeitete ich in Paraguay auch mal auf dem Feld und habe Kuhdung in Löcher für Bananenstauden gestopft. Eine schöne Zeit, in der ich viel gelernt habe.

Ab wann war Ihnen klar, journalistisch arbeiten zu wollen?

Julia Leeb: Dieser Wille sitzt tief in einem. Immer schon habe ich Menschen von meinen Erlebnissen erzählt und Fotos gezeigt. Es ist wichtig, das Erlebte zu teilen und Wissen zu generieren. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob ich mich als Journalistin bezeichne.

Welcher Begriff trifft es alternativ?

Julia Leeb: Diese Frage kann ich leider nicht beantworten. Je nachdem bin ich Virtual-Reality-Filmemacherin, Dokumentarfilmerin oder Fotografin und jetzt sogar Bestseller-Autorin. Wenn mich ein Thema beschäftigt, nutze ich ein Medium, um es bestmöglich verständlich zu machen – sei es der Stift, die Virtual Reality Kamera oder die Form von Kunst.

Virtual Reality und 360° – welchen Vorteil hat die Arbeit mit diesen Methoden?

Julia Leeb: Jedes Foto, jedes Bild, jedes Ölgemälde und jeder Fernseher hat einen Rahmen. Bei 360° in Verbindung mit der VR-Brille liegt die eigentliche Revolution in der Befreiung dieser Begrenzung. So kann sich jeder Mensch an den Ort »beamen« und sich selbst ein Bild vor Ort machen. Wie bei jedem anderen Medium ist auch ein Foto die bewusste Entscheidung, nur einen Teil zu zeigen. Bei 360° ist das anders. Man ist mittendrin in diesem Medium und kann deshalb mitunter Sachen entdecken, die ich selbst überhaupt nicht bedacht oder gesehen habe.

Welche Philosophie begleitet Ihr Tun?

Julia Leeb: Ewiges Verstehenwollen, warum sich Menschen immer wieder das Gleiche antun. Warum weigern wir uns so vehement, uns selbst im Gegenüber zu erkennen.

In Ihrem neuen Buch geben Sie unter anderem einen Einblick in ein abgeschottetes Land: Nordkorea. Wie schwierig war es, vor Ort an authentische Aufnahmen zu kommen?

Julia Leeb: Um unsere Reiseführer zu schützen, habe ich im Buch zwei Reisen zusammengelegt. Vor Ort hatte ich jedes Mal Glück. Statt in einem großen Pulk von A nach B gekarrt zu werden, reiste ich einmal zu zweit und ein andermal zu viert mit den obligatorischen Reisebegleitern. Ich wollte der Bevölkerung näherkommen und aufzeigen, dass das keine Roboter, sondern Menschen aus Fleisch und Blut sind.

Ein weiterer Text beschreibt den Sturz des ägyptischen Machthabers Mubarak am 11. Februar 2011. Wie sehr war dieser absehbar?

Julia Leeb: Niemand hat damit gerechnet. Es war das erste und einzige Mal in der tausendjährigen Geschichte, dass das Volk sozusagen den Pharao vertreibt. Eine unglaubliche Euphorie fegte durch die Straßen. Was passiert ist, hat man erst im Nachhinein verstanden.

Wie beurteilen Sie den Arabischen Frühling rückblickend?

Julia Leeb: Ich bin keine Lehrerin und auch niemand, der die Zukunft voraussagt. Ich dokumentiere Ereignisse. Da unterscheide ich mich vielleicht von anderen. Damals war die ganze Sympathie auf der Seite der Revolutionäre, weil es die gewaltlose Jugend war. Der Beginn eines epochalen Prozesses, der meines Erachtens noch nicht abgeschlossen ist. Europa ist auch nicht in zwei Wochen entstanden.

Im Buch teilen sich die Ereignisse auf dem Tahrir-Platz in zwei verschiedene Kapitel. Letzteres beschreibt einen brutalen Übergriff auf Sie selbst durch eine Horde Männer. Am Tag nach dem Angriff waren Sie wieder vor Ort und haben berichtet. Wie bringt man diese Kraft auf?

Julia Leeb: Das ist eine Entscheidung. Ich bin davongekommen. Sie konnten mich nicht fertig machen und werden mich nicht zum Schweigen bringen. Hier geht es um eine Art von Überlebens- und Siegeswillen.

Später tauchte im Internet Bildmaterial vom Übergriff in Kairo als Fake News im Zusammenhang mit den Ereignissen der Kölner Silvesternacht 2015 auf. Wie haben Sie darauf reagiert?

Julia Leeb: Ich war sprachlos und fand es extrem übergriffig, nicht bestimmen zu dürfen, ob ich mich zu dieser Geschichte äußere. Meine private Geschichte wurde zum Politikum – für eine Sache, die nichts damit zu tun hat. Klar, musste ich das Ganze aufklären. Unter dem Post fanden sich die schrecklichsten Kommentare. Später habe ich hunderte Dankesnachrichten bekommen. Geflüchtete Syrer schrieben mich an, aber auch die New York Times und Menschen aus Ungarn, wo das Video sehr lange noch als vermeintlicher Beweis der Kölner Silvesternacht in den Nachrichten gezeigt wurde.

Wie schützt man sich im Zuge Ihrer Arbeit, nicht in Zynismus zu verfallen?

Julia Leeb: Ich konzentriere mich auf die strahlenden Persönlichkeiten, die sich nicht in den Abgrund ziehen lassen, obwohl sie in Dunkelheit leben. Menschen, die sich aus eigener Kraft für das Gute einsetzen. Langfristig wird das Gute immer siegen. Wird man zynisch oder spürt nichts mehr, ist es nicht der richtige Beruf.

Welche Faktoren machen Ihnen vor einer Reise Angst? Kann man kalkulieren?

Julia Leeb: Ich gehe ins Ungewisse und Ungewissheit macht Angst. Oft kann ich auf keinen Erfahrungsschatz anderer Journalisten zurückgreifen – einfach, weil niemand dort ist. Kalkulieren ist generell schwierig. Man kann sehr lange in diesem Beruf sein und trotzdem Fehler machen. Mein Vorbild Anja Niedringhaus hat sich in Afghanistan ausgekannt wie keine Zweite, ist dann zu den Wahlen gefahren und wurde dort erschossen. Damit hätte niemand gerechnet. Es bleibt ein unkalkulierbarer Beruf.

Sehen Sie in Ihrem beruflichen Umfeld geschlechtsspezifische Unterschiede in der Herangehensweise?

Julia Leeb: Generalisierungen sind immer lückenhaft. Meiner Erfahrung nach aber bleiben die weiblichen Kollegen länger an einem Thema dran und sorgen sich mehr um die menschlichen Hintergründe. Bei männlichen Kollegen habe ich oft erlebt, wie sie Gefechtssituationen dokumentieren und dann wieder abfahren. Jemand wie Anja Niedringhaus bleibt, forscht, lebt mit den Menschen, baut Freundschaften auf. Ihr Ziel war es, zu verstehen, was der Krieg mit den Menschen macht.
Vielen Dank für das Gespräch!

Buchtipp: Julia Leeb »Menschlichkeit in Zeiten der Angst«, Suhrkamp 2021, 234 Seiten, 18 Euro. Mehr zur Autorin: www.julialeeb.com/

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