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Hymnen gegen den Hass – Kettcar im Interview (Foto: Andreas Hornoff)
Kettcar im Interview (Foto: Andreas Hornoff)
■ Die Band Kettcar um Sänger Marcus Wiebusch steht für clevere Rocksongs ohne Parolen und erhobenen Zeigefinger. Ihr Video »Sommer '89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)« ist eine berührende Geschichtsstunde: Darin verhilft ein junger Westdeutscher einer Familie aus der DDR zur Flucht in die Freiheit. Der Clip und der Song lassen sich auch als ein Kommentar gegen Hetzer und Hass lesen. Kettcars fünftes, von Philipp Steinke produziertes Album »Ich vs. Wir« ist eine wuchtig klingende Symbiose aus Melancholie und Euphorie. Olaf Neumann sprach für DRESDNER Kulturmagazin mit Marcus Wiebusch in Hamburg über Passion, Pathos und Politik.

»Ich vs. Wir« beginnt mit der Zeile »Es war einer dieser Zyankali-Tage, an denen wir uns mal wieder umbringen wollten/weil die Menschen überhaupt keinen Sinn ergaben«. Ist das autobiografisch?

Marcus Wiebusch: Diese Zeile drückt aus, wie sich ein links denkender Mensch wie ich fühlt, wenn er konfrontiert wird mit den demokratisch legitimierten Vollidiotenentscheidungen, die quasi minütlich auf uns niederkrachen: Stichwort Trump, Erdogan, Brexit. Dabei verliert man allmählich den Glauben an den Menschen und es stellt sich einem die übergeordnete Frage, die auch der Albumtitel widerspiegelt: Mit wem will ich eigentlich was zu tun haben? Als Linker kann man sich vielleicht noch in die Hölle des Zynismus flüchten, aber eigentlich sollten wir doch zusammen eine Gesellschaft hinkriegen, die lebenswert für alle ist. Das scheint schwieriger denn je zu sein. In dem Song wird die Flucht zweier Leute beschrieben, die sich ihre Menschlichkeit an einem Platz abholen, wo sie noch Liebe und Wärme empfinden.

»Ich gegen wir« scheint das heimliche Leitmotiv unserer Zeit zu sein. Sind die Egoisten auf dem Vormarsch?

Marcus Wiebusch: Der Albumtitel »Ich vs. Wir« basiert auf dem Song »Wagenburg«. Darin lasse ich das Ich und das Wir krass gegeneinander crashen. Wenn man das mal in den rechtspopulistischen Kontext stellt, kann man eindeutig sehen, dass die Rechten mit »Wir sind das Volk« eigentlich »Ich bin das Volk« meinen. Das ist empathieloser Egoismus! Der Widerstand der Straße ist heute scheinbar nur noch rechtspopulistisch aufgeladen, wenn man einmal von den G20-Protesten absieht. »Mit wem will ich eigentlich was zu tun haben?« ist eine politische Urfrage, die jeder für sich beantworten muss. Als links denkender Mensch fühlt man sich zunehmend verloren, weil es unfassbare Grabenkämpfe gibt. Das macht es sehr schwer, eine lebenswerte Gesellschaft zu formieren, die nach meinem menschlichen Verständnis geschaffen werden könnte.

Hat sich nach den G20-Ausschreitungen in Hamburg etwas an Ihrem linken Selbstverständnis geändert?

Marcus Wiebusch: Ich feiere nicht jede Vollidiotenaktion ab, aber ich stehe hinter 95 Prozent der Protestierenden bzw. deren Form des Protestes. Die mediale Aufarbeitung des G20-Gipfels war dann eine einzige Zumutung.

Der Song »Im Sommer '89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)« erzählt von einer deutsch-deutschen Fluchthilfe und ist ein Statement zur gegenwärtigen Flüchtlingskrise. Wie kamen Sie auf die Idee zu der vertonten Geschichte?

Marcus Wiebusch: Ganz am Anfang stand ein Artikel – ich glaube, er war in der Süddeutschen Zeitung – in dem ich auf ein österreichisches Ehepaar aus Mörbisch am See aufmerksam wurde. Es holte im Sommer 1989 insgesamt 400 DDR-Bürger über die Grenze, in einer Nacht waren es allein 23. Dazu muss man wissen, das sich in jenem Sommer an der österreichisch-ungarischen Grenze unfassbare Zustände abgespielt haben, weil die ungarischen Grenzbeamte das Ganze nicht mehr ganz ernst nahmen und zum Teil nur noch ein 1,80 Meter hoher Zaun die Menschen von der Freiheit trennte. Aufgrund dieses Artikels habe ich dann noch etwas weiter recherchiert und einiges gelesen. Die Positionen aus der dritten Strophe in der WG-Küche kenne ich aus persönlicher Erfahrung. Und dann habe ich den Text geschrieben.

Kettcar wurden als Emotionsverstärker und Pathos-Experten bezeichnet. Wie denken Sie darüber?

Marcus Wiebusch: Ich will als Künstler natürlich immer emotionalisieren. Was soll ich hier rumeiern? Es ist ja keine Doku, sondern ein expressiv aufgeladener Erzähltext, mit dem ich den Zuhörer packen will. Wie packe ich ihn? Indem ich Dinge überhöhe. Natürlich ist das pathetisch, aber what the fuck! Ich bin Künstler, der Vorwurf des Pathetischen kommt auch nur in Deutschland. Bruce Springsteen würde man niemals Pathos vorwerfen! Ich will mich nicht mit ihm vergleichen, aber ich kenne seine Tricks, um die Leute zu erreichen. Genau dieselbe Technik wende ich Zeit meines Lebens an. Aber was Pathos angeht, steht Bruce Springsteen 200 Prozent über mir.

Was ist Ihr Antrieb als Songschreiber?

Marcus Wiebusch: Wenn ich als Künstler Songs schreibe, dann sehe ich das als meine Möglichkeit, Dinge ans Licht zu bringen. »Sommer '89« ist kein Song, der billige Antworten liefert, sondern wichtige Fragen aufwirft.

Kommen Sie bei der derzeitigen Fülle an Negativschlagzeilen überhaupt in Schreiblaune?

Marcus Wiebusch: Das wird auf dem Album auch thematisiert. Innerhalb der Band ist »Den Revolver entsichern« wahrscheinlich der wichtigste Song auf dem Album. Darin feiern wir die sogenannten »guten Menschen« ab, die ja auch gerne mal mit dem rechtspopulistischen Kampfbegriff des Gutmenschen belegt werden. Also Menschen, die überhaupt noch so etwas wie Empathie haben. In Zeiten wie diesen kommt es mir fast so vor, als wären sie so was wie das letzte Bollwerk gegen den ganzen Wahnsinn. Früher habe ich diese Moralapostel und naiven Weltverbesserer immer gehasst, aber der Schlüssel ist, einfach mal die Fresse zu halten und den eigenen Wertmaßstäben folgend das Richtige zu tun. Das wird viel zu wenig gemacht.

Muss man auch denjenigen zuhören, die gegen mehr Zuwanderung sind und versuchen, ihre Wut zu verstehen?

Marcus Wiebusch: Ich habe nicht viel Verständnis für Leute, die nach Obergrenzen verlangen. Wie soll das funktionieren? Wenn man aus Deutschland kommt und ein Gefühl dafür kriegt, wie es an anderen Stellen der Welt aussieht, kann man nicht à la Trump noch eine Mauer bauen. Das ist nicht der Weg!

Früher dachte man naiv: Wer mit Rockmusik aufwächst, wird ein besserer Mensch. Ein Trugschluss?

Marcus Wiebusch: Vielleicht konnte Rock- und Popmusik das nur zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Gegenkultur der Endsechziger Jahre wurde sehr stark von Musik befeuert. Danach gab es immer wieder solche Ansätze, aber unterm Strich hat man sich zu viel davon versprochen. Und heute ist davon nicht mehr viel übrig. Es kommen immer noch gute Bands und tolle Songs raus, aber ich bin davon nicht mehr so leidenschaftlich gepackt wie früher. Das hat aber auch etwas mit der eigenen musikalischen Sozialisation zu tun.
Vielen Dank für das Interview!

Kettcar sind am 31. Januar im Alten Schlachthof zu erleben; mehr zur Band: www.kettcar.net/

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