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Die raue, kreative Energie des Nordens – Dagur Kári im Interview zu seinem Film »Virgin Mountain«
Dagur Kári im Interview zu seinem Film »Virgin Mountain«
■ Island – die kleine Nation im Norden Europas – hat seit etlichen Jahren einen erstaunlichen Output an großartigen Filmen von Kreativen wie Fridrik Thor Fridriksson, Baltasar Kormákur oder eben Dagur Kári vorzuweisen. Der 41-Jährige hatte 2003 seinen internationalen Durchbruch mit »Nói albinói«, es folgten wunderbare Filme wie »Dark Horse« oder »A Good Heart«. In »Virgin Mountain« erzählt Kári nun die anrührende und auch komische Geschichte um den Außenseiter Fúsi, der eine Frau finden will. DRESDNER-Autor Martin Schwarz begegnete einem zurückhaltend-sympathischen Regisseur und sprach mit ihm über die Wirtschaftskrise seines Landes, über Kreativität und natürlich den neuen Film.

Herr Kári, wie geht es Island im Jahr 2015, sieben Jahre nach dem Bankencrash?

Dagur Kári: Es ist ziemlich tough. Die Nahrungsmittelpreise sind um 70 bis 80 Prozent gestiegen, ebenso wie die Mieten, während die Löhne stagnieren. Für normale Leute ist es sehr schwer, über die Runden zu kommen. Wir haben derzeit eine rechtskonservative Regierung, worüber ich nicht sehr glücklich bin – es herrscht eine pessimistische Atmosphäre.

Aber hatten Sie mit Jón Gnarr nicht diesen punkigen Bürgermeister in Reykjavík, der das politische System gehörig aufgemischt hat?

Dagur Kári: Ja, aber seine vier Jahre Amtszeit sind vorüber. Er ist Komiker, Musiker, Schriftsteller – und ein wunderbarer Mensch.

Er hat also eine Lücke hinterlassen?

Dagur Kári: Definitiv. Er hat nie wie ein typischer Politiker gesprochen und gehandelt, sondern war immer gerade heraus. Was als Gag begann, entwickelte sich zu etwas sehr Wichtigem für die isländische Politik. Zum ersten Mal hatte man das Gefühl, dass Ehrlichkeit und Politik zusammenkommen. Und jetzt flirtet Gnarr sogar mit der Idee, sich um die Präsidentschaft zu bemühen. Die Krise hatte aber auch ihre guten Seiten: Vorher war so viel Geld im Umlauf und man verstand die Mechanismen dahinter nicht. Durch die Krise hat Island die Chance, zur Normalität zurückkehren, auch wenn der Alltag jetzt härter ist.

Sie haben sechs Jahre für ihren neuen Film gebraucht. Hatte diese lange Zeit etwas mit der Wirtschaftskrise zu tun?

Dagur Kári: Nach meinem letzten Film »A Good Heart« fühlte ich eine gewisse Leere in mir. Dazu kommt, dass ich auch Musiker bin, und dann überkommt mich hie und da das Bedürfnis, meine ganze Energie nur noch in die Musik zu stecken. Ich habe dann eine Ausbildung zum Komponisten begonnen, allerdings nur für zweieinhalb Monate. Wieder die Schulbank zu drücken, das war nichts für mich. Aber ich möchte die Zeit trotzdem nicht missen, weil dort Gebiete in meinem Hirn aktiviert wurden, die jahrelang brach lagen.

Kommen wir zum Film: Kennen Sie jemand, der so ist wie Ihre Hauptfigur Fúsi?

Dagur Kári: Die Figur basiert nicht auf einem realen Menschen, aber ich kenne Menschen mit ähnlichen Verhaltensweisen. Der Großteil der Figur kam tatsächlich durch Gunnar Jónsson, der Fúsi spielt. Ich wollte ihn seit vielen Jahren in einer Hauptrolle besetzen, die Rolle beruht nun stark auf seiner Ausstrahlung und meiner Fantasie.

Sie haben ihm also die Rolle auf den mächtigen Leib geschrieben?

Dagur Kári: Genau. Ohne ihn hätte ich den Film nicht gemacht, dies ist eine Art Liebeserklärung an Gunnar. Aber am Drehbuch war er nicht beteiligt. Ich war ganz schön nervös, als ich ihm das Skript überreicht habe, denn ich hatte Gunnar vorher nicht gefragt, ob es okay ist, für ihn ein Drehbuch zu schreiben, sondern einfach losgelegt. Er arbeitete zu der Zeit als Koch auf einem großen Containerschiff und war nur schwer zu erreichen. Er ist kein ausgebildeter Schauspieler, sondern ein Naturtalent.

Und wie war die Zusammenarbeit?

Dagur Kári: Sehr befreiend und sehr still. Das passt sehr gut zum Film. Gunnar ist überhaupt nicht der Typ, der alles analysieren muss, er füllt ohne viele Worte diese Figur mit Leben aus.

Die Figur ist wichtiger als die Geschichte?

Dagur Kári: Für mich sind die Figur und die Situation entscheidend. In vielen Filmen ist die Handlung das Wichtigste, und die Charaktere sind sozusagen Sklaven der Handlung. Für mich dient die Handlung lediglich als roter Faden, der alles zusammenhält.

Ist die isländische Filmszene immer noch ein eingeschworener Haufen wie vor der Krise?

Dagur Kári: Ja. Das Großartige an dieser Filmfamilie: Es gibt eine Art raue kreative Energie. Man hat dauernd das Gefühl, dass alles möglich ist. Das gilt auch für die Musikszene: Jeder kennt jeden, jeder hilft jedem. Die meisten spielen in fünf verschiedenen Bands. Einen Film zu drehen für einen Markt von 350.000 Menschen ist absurd, also muss man ständig das Unmögliche wagen.
Vielen Dank für das Gespräch!

»Virgin Mountain« Island/ Dänemark 2015, Regie: Dagur Kari, mit Gunnar Jónsson, Ilmur Kristjánsdóttir, Arnar Jónsson u.a. ab 12. November in der Schauburg und im Pk Ost; mehr zum Film: www.alamodefilm.de/kino/detail/virgin-mountain.html

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